Alexa, die Amazone – Die große Chance
Strohballen gesunken. Harald hat sich ihr gegenüber hingesetzt. Alexa spürt, wie ihr eine Gänsehaut den Rücken hochkriecht. Sie schaudert.
»Und dann? Dann ist was passiert?«
»Ja, Charisma sollte vor ihrem olympischen Finale noch bei einem Sichtungsspringen in Rotterdam starten. Kurt war dagegen. Charisma hatte eben eine Erkältung auskuriert, wurde deswegen noch immer mit Medikamenten behandelt und war noch nicht wieder völlig fit. Kurt hatte ein schlechtes Gefühl, wollte die Meldung eigentlich zurückziehen. Aber das Springen war für den Olympiastart wichtig. Charismas Reiterin setzte sich bei Kurt durch. Sie starteten. Erster Umlauf fehlerfrei – wie vorausgesehen. In einer irren Zeit. Und ein Reiterpaar, wie es später nie mehr eines gab – beim schnellsten Lauf strahlten sie noch immer Harmonie und Ruhe aus. Es war ein Traum. Tja. Nach dem zweiten Umlauf musste ein Stechen entscheiden. Vier Pferde traten gegeneinander an. Vor ihr ritt ein Italiener. Vier Fehler bei der Mauer. Sie hatte 1,60 Meter Höhe. Für Charisma keine Schwierigkeit, sie war schon oft höher gesprungen. Sie hatte reelle Chancen auf den Sieg. Da passierte es unerklärlicherweise vor der Mauer. Ihre Reiterin beschleunigte gerade, um den nötigen Schwung für die Höhe zu bekommen, da scheute Charisma kurz vor dem Absprung, brach nach links aus. Links versperrte ihr aber ein gewaltiger Wall mit dem Pulvermanns Grab den Weg. Charisma war zu schnell, um rechtzeitig stoppen zu können. Sie sprang das von Steinen begrenzte Naturhindernis schräg an, rutschte aus, fing sich wieder, da kamen ihr aber die Hindernisstangen in die Quere. Eine Stange fiel ihr zwischen die Vorderbeine. Die Geschwindigkeit brach Charisma den Hals. Sie überschlug sich, prallte mit dem Rücken auf die Begrenzungssteine auf der anderen Seite des Walls und rutschte daran hinunter. Der Tierarzt musste sie noch auf dem Platz töten. Sie hatte sich die Wirbel gebrochen.«
Eine Zeit lang ist es ganz still. Alexa knetet ihre kalten Finger.
»Und die Frau?«, fragt sie schließlich.
»Kam mit dem Schreck und leichten Prellungen davon.«
»Warum nennen Sie nie ihren Namen? Wissen Sie nicht, wie sie geheißen hat?«
»Der Name ist in diesem Haus tabu.«
»Weshalb hat mir Kurt nie davon erzählt – oder Flavio?«
»Kurt hat jahrelang darunter gelitten. Er fühlte sich schuldig an Charismas Tod, weil er sie wider besseres Wissen hatte starten lassen. Er konnte sie ja nicht mit Medikamenten in den S-Parcours lassen, damit wäre sie gedopt gewesen. Also hatte er die Mittel rechtzeitig abgesetzt, hatte Leistung vor Gesundheit gestellt. Vielleicht hatte sich Charisma im Springen zu sehr verausgabt und war so geschwächt, dass sie für das Stechen einfach keine Kraft mehr hatte, wer weiß? Sie war eine ehrliche und mutige Kämpferin, sie hat es versucht, sie ist gescheitert!« Harald macht eine kurze Pause, schaut gedankenverloren geradeaus. Dann blickt er Alexa direkt in die Augen. »Jedenfalls machte sich Kurt ständig Vorwürfe, dass er es hätte verhindern können – und er sah Charismas Reiterin als Mittäterin, weil sie ihn zu diesem Start gedrängt hatte. Er baute damals eine Mauer um sich, kapselte sich ein, wollte keinen mehr sehen. Als er wieder aus seinem Schneckenhaus herauskam, war klar, dass er über dieses Thema nicht mehr sprechen wollte.«
»Auch nicht mit Ihnen? Ich denke, Sie sind sein Freund?«
»Wir sind befreundet, ja. Deshalb quäle ich ihn damit auch nicht und du sprichst es am besten auch nicht an. Außerdem ist ja ein bisschen was von Charisma übrig geblieben. Und nichts Schlechtes, soviel ich sehe. Im Grunde lebt sie also weiter.«
»Wie, was, ich versteh nicht.«
»Nun. Chicolo. Er sieht seiner Mutter sehr ähnlich.«
»Chicolo? Was? Chicolo? Ich werd verrückt!« Alexa springt auf.
»Wusstest du das denn nicht?«
»Ach was, woher denn. Mir erklärt hier ja keiner was. Und Urban hatzwar etwas angedeutet, aber ... und Tafeln sind ja auch keine an den Boxen ...«
Alexa geht zu Chicolo, der ihr sofort den Kopf zuwendet.
»Schmust Chicolo deshalb so mit Ihnen?«
»Weil ich seine Mutter gekannt habe? Alexa! Das ist doch wohl ein bisschen zu übertrieben. Fünf Jahre sind eine lange Zeit! Und noch was. Wenn ich dich duze, solltest du das mit mir auch tun. Ich bekomme ja sonst ein schlechtes Gewissen!«
»Aber Sie sind doch so viel älter als ich ...«
»Na, danke. Ich nehme an, etwa zwanzig Jahre. Das ist noch nicht ganz das
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