Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
… Man muss doch … Man kann doch nicht …«
»Doch. So leid es mir tut. Solange ich keinen begründeten Verdacht habe, dass Lea etwas zugestoßen ist, sind mir die Hände gebunden, wie man so schön sagt.«
»Und was sagt Leas Vater dazu?«
»Dass sie alt genug ist, selbst auf sich aufzupassen.«
»Dieser Typ ist so ein Arsch!«
Nun wurde es vielleicht doch noch interessant. Ich beugte mich ein wenig vor. »Warum sagen Sie das?«
»Weil’s stimmt. Lea hat mal so Andeutungen gemacht. Er säuft. Und wenn er besoffen ist, dann …« Er schluckte. Öffnete den Mund. Schloss ihn wieder.
»Was ist dann?«, fragte ich leise.
»Wie gesagt, sie hat nur so Andeutungen gemacht. Aber ich glaube, er hat sie … na ja, angefasst eben.«
»Das hat sie so gesagt? Ihr Vater hätte sie angefasst?«
»So ungefähr, ja. Nein, gesagt hat sie es eigentlich nicht. Nicht so. Aber dass er ein Arsch ist und sie anwidert und dass sie wegwill.«
»Ich müsste es schon ein bisschen genauer wissen …«
»Ich weiß es aber nicht genauer«, erwiderte Henning heftig und nieste. »Von ihrer Mutter hat sie mir nur erzählt, dass sie tot ist und dass sie eine Weile bei ihren Großeltern in Bad Homburg gelebt hat und machen konnte, was sie wollte. Und jetzt muss sie hier in Heidelberg sein, und das passt ihr gar nicht. Sie hasst die Stadt und die Leute und die Schule und alles. Aber am allermeisten hasst sie ihren Vater.«
Aus irgendeinem Grund mochte ich den Burschen, der inzwischen mitleiderregend schwitzte und immerzu die viel zu großen Hände an der dunkelgrauen Jeans abwischte.
»Okay«, sagte ich langsam. »Und nun?«
»Wissen Sie, er hat sich die ganzen Jahre einen Scheiß um sie gekümmert. Hängt da in seinem Haus rum und arbeitet nichts und säuft sich tot und …«
»Was, und?«
»Na ja … Hab ich doch schon gesagt.«
»Bisher haben Sie nur Andeutungen gemacht.«
»Ich weiß doch nicht, was da abgegangen ist. Lea hat ja auch …«
Durch meinen Kopf wirbelten alle möglichen Gedanken und Phantasien. War Lea womöglich auf der Flucht vor ihrem eigenen Vater?
»Wie ist sie denn so in der Schule?«
»Totale Katastrophe«, meinte mein Gegenüber seufzend und kniff die Augen zu. »Die Schule geht Lea voll am Arsch vorbei. Sie will Model werden. Oder Filmschauspielerin. Oder sonst was, wo man kein Mathe und kein Französisch braucht. Da braucht sie nur ein schönes Gesicht, sagt sie, und gute Titten und lange Beine, und das hat sie ja alles.«
Ach, du liebe Güte.
»Letzte Woche hat sie mal wieder voll den Stress mit unserem Mathelehrer gehabt. Sie hat schon die zweite Sechs geschrieben in dem Halbjahr. Diesmal hat sie sich nicht mal die Mühe gemacht, irgendwas hinzuschreiben. Hat nach fünf Minuten einfach leere Blätter abgegeben und ist gegangen.« Henning atmete heftig und betrachtete seine knochigen Hände. »Der Plako hat voll getobt. Eigentlich heißt er Plakowsky, aber wir nennen ihn alle Plako. Er hat ihr nachgerufen, mit der Einstellung landet sie auf dem Strich. So was sagt der sonst nie. Der Plako ist eigentlich echt okay.«
»Und was hat sie geantwortet?«
»Voll cool, sie hat nämlich gesagt, dass sie schon lange auf den Strich geht und dass er sie gerne mal am Nachmittag besuchen kann. Den Plako hat fast der Schlag getroffen. Zehn Minuten lang hat er das Rumpelstilzchen gemacht. Mit Schulverweis gedroht und Jugendamt und vollem Programm. Aber das hat sie gar nicht mehr gehört, weil sie ja längst weg war. Am Mittwoch ist sie dann vor Mathe einfach abgehauen. Und am Donnerstag genauso.«
»Wenn Sie irgendwas hören, was für mich interessant sein könnte, dann erfahre ich das, okay?«
»Mach ich. Klaro. Und jetzt? Was passiert jetzt?«
»Ich verspreche Ihnen, dass ich die Sache im Auge behalten werde. Mehr kann ich im Moment nicht tun. Aber ich bin sicher, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Sie wird wiederauftauchen. Fast alle tauchen wieder auf.«
Natürlich war er nicht beruhigt. Er erhob sich zögernd, drückte meine Hand und wandte sich dann so plötzlich zum Gehen, als wäre er auf der Flucht.
Rolf Runkel hatte offenbar schon im Vorzimmer gewartet, um sich seinen Rüffel abzuholen. In der Tür trafen die beiden aufeinander.
Der Junge nickte Runkel unsicher zu, sagte mit verwirrtem Lächeln »Hallo« und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Nun stand ein bedröppelter Rolf Runkel vor mir und wagte nicht, mir in die Augen zu sehen.
»Setzen Sie sich, und erzählen Sie«, herrschte
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