Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fluch, Der: Roman

Fluch, Der: Roman

Titel: Fluch, Der: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
1. Kapitel: 246
    »Dünner«, raunt der alte Zigeuner mit der abfaulenden Nase William Halleck zu, als Halleck und seine Frau Heidi aus dem Gerichtsgebäude treten. Nur dieses eine Wort, ausgestoßen mit einem süßlich riechenden Atem. Und bevor Halleck zurückweichen kann, streckt der alte Zigeuner seine Hand aus und fährt ihm mit seinem gekrümmten Finger über die Wange. Seine Lippen öffnen sich wie eine Wunde und geben ein paar Zahnstummeln preis, die aus seinen Kiefern herausragen. Sie sind schwarzgrün. Die Zunge schlängelt sich dazwischen hindurch und gleitet nach außen, um über seine grinsend verzogenen Lippen zu schlüpfen.
    Dünner.
    Billy Halleck mußte gerade in dem äußerst passenden Augenblick daran denken, als er um sieben Uhr morgens, ein Handtuch um seine Taille geschlungen, auf der Waage stand. Aus dem Erdgeschoß zog der Duft von Eiern und gebratenem Speck herauf. Er mußte den Hals leicht vorrecken, um die Zahlen auf der Skala lesen zu können. Nein... er mußte sich etwas mehr als nur leicht vorbeugen. Er mußte sich ganz schön strecken. Er war ein dicker Mann. Zu dick, wie Dr. Houston ihm in munterem Ton gesagt hatte. Falls es Ihnen noch niemand gesagt haben sollte, setze ich Sie davon in Kenntnis, hatte er ihn nach der letzten Routineuntersuchung gewarnt. Ein Mann in Ihrem Alter, mit Ihrem Einkommen und Ihren Gewohnheiten nähert sich grob gerechnet – mit 38 dem Herzinfarkt, Billy. Sie sollten etwas abnehmen.
    Aber dieser Morgen brachte Erfreuliches. Er hatte drei Pfund abgenommen, von 249 auf 246. Eigentlich hatte die Waage das letztemal, als er den Mut aufgebracht hatte, sich auf sie zu stellen und genau hinzusehen, 251 Pfund angezeigt, aber da hatte er seine Hose angehabt mit dem Kleingeld in den Taschen, ganz zu schweigen von dem Schlüsselbund und seinem Schweizer Taschenmesser. Und die Waage im oberen Badezimmer zeigte immer etwas zuviel an.
    Das sagte ihm ein sicheres Gefühl.
    Als Kind in New York hatte er gehört, daß Zigeuner die Gabe der Prophezeiung besitzen. Vielleicht war dies der Beweis dafür. Er versuchte zu lachen, brachte aber nur ein klägliches und nicht gerade strahlendes Lächeln zustande; es war noch zu früh, um über Zigeuner zu lachen. Die Zeit würde vergehen, und man würde die Dinge wieder in nüchternem Licht sehen. Er war alt genug, um das zu wissen.
    Doch im Augenblick wurde ihm beim Gedanken an Zigeuner in seinem viel zu großen Bauch speiübel und er hoffte von ganzem Herzen, daß er nie wieder einen zu Gesicht bekäme.
    Von nun an würde er bei den Handleseübungen auf den Partys passen und sich aufs Ouija-Brett beschränken, wenn überhaupt das.
    »Billy?« Das kam von unten.
    »Ich komme!«
    Er zog sich an und stellte dabei mit unterschwelliger Verzweiflung fest, daß seine Hose um die Taille wieder enger saß, obwohl er doch drei Pfund abgenommen hatte Er hatte genau um 12 Uhr 01 am Neujahrsmorgen mit dem Rauchen aufgehört, aber er hatte dafür bezahlt. O ja, er hatte bezahlt.
    Mit offenem Hemdkragen, die Krawatte lose um den Hals geschlungen, ging er nach unten. Linda, seine vierzehnjährige Tochter, huschte gerade mit wippendem Röckchen und ihrem sexy mit einem Samtband hochgebundenen Pferdeschwanz zur Haustür hinaus. Unter einem Arm trug sie ihre Schulbücher. In der anderen Hand raschelten fröhlich zwei lila-weiße Cheerleader-Pompons.
    »Wiedersehn, Dad!«
    »Schönen Tag, Lin.«
    Er setzte sich an den Tisch und griff zum Wall Street Journal.
    »Liebling«, mahnte Heidi.
    »Meine Liebe«, antwortete er feierlich und legte die Zeitung mit der Titelseite nach unten neben das Frühstückstablett.
    Sie trug das Frühstück auf: einen dampfenden Berg Rührei, ein Rosinenbrötchen und fünf Scheiben knusprig gebratenen Bauernspeck. Gutes Essen. Sie kuschelte sich ihm gegenüber auf den anderen Stuhl in der Frühstücksecke und zündete sich eine Zigarette an. Im Januar und Februar hatte es Spannungen gegeben - zu viele ›Diskussionen‹, die nichts anderes als verkleidete Streitereien gewesen waren, zu viele Nächte, in denen sie schließlich Rücken an Rücken eingeschlafen waren. Doch sie hatten einen modus vivendi gefunden: Sie hatte damit aufgehört, ihn ständig wegen seines Gewichts zu kritisieren, und er hatte es sein lassen, ihre anderthalb Packungen Zigaretten pro Tag zu bemängeln. Es hatte für einen angenehmen Frühling gereicht. Und außerdem hatten sich weitere angenehme Dinge ereignet. Zunächst einmal war Halleck befördert

Weitere Kostenlose Bücher