Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
dem er seine Stelle verloren hat?«
Körner lachte verlegen. »Ja. Und nein.«
»Was hat er sich denn zuschulden kommen lassen?«
»Ich möchte …« Ein Hustenanfall unterbrach ihn, bei dem ich an Thomas Manns »Zauberberg« denken musste. »Ich möchte nichts dazu sagen. Bitte haben Sie Verständnis.«
»Dann rate ich einfach mal: Unterschlagung?«
»Negativ.«
»Verrat von Betriebsgeheimnissen?«
»Nie im Leben.«
»Etwas Sexuelles?«
»Hm.«
»Am Arbeitsplatz?«
»Das haben Sie gesagt.«
»Eine Kollegin?«
Körner stöhnte. »Eine Laborantin. Das Kindchen war gerade mal neunzehn. Und es ist nie wirklich geklärt worden, inwieweit sie einverstanden war oder nicht. Sie konnte auch gar nichts dafür, dass die Geschichte aufgeflogen ist. Irgendwer hatte wohl irgendwas mitgekriegt und getratscht, und damit war das Gerücht in der Welt. Die Geschäftsleitung hätte wohl sogar ein Auge zugedrückt. Aber seinerzeit gab’s eine Dame im Personalrat, so eine … Lassen wir das Thema, sonst bin ich demnächst auch noch auf Jobsuche. Jedenfalls ist diese Dame regelrecht Amok gelaufen und hat die kleine Nelly ganz verrückt gemacht. Am Ende war es wohl die beste Lösung für alle Beteiligten. Justus hat eine hübsche Abfindung gekriegt, und sie haben ihn praktisch von einem Tag auf den anderen freigestellt. War ein ziemlicher Schlag für die Abteilung. Auf der anderen Seite …«
Ich nahm den Hörer ans andere Ohr. »Auf der anderen Seite?« Ich las Dr. Körners Nummer vom Display ab und notierte sie.
»Alkohol«, sagte er nach einer Pause in leidendem Ton. »Das ist manchmal ein Problem gewesen. Nicht, dass er ständig besoffen zur Arbeit gekommen wäre. Justus ist mehr so der Typ Quartalssäufer. Wenn schon, dann hat er sich die Kante so richtig gegeben. Er hat sogar eine Therapie versucht. Danach war für ein paar Monate Ruhe. Aber letzten Endes hat er es nicht in den Griff gekriegt. Alle paar Wochen ist er abgestürzt. Mit Blackout und ein, zwei Mal sogar Notaufnahme. Wie geht’s ihm denn? Was treibt er? Hat er wieder einen Job gefunden? Ich habe seither nichts mehr von ihm gehört.«
»Er hat sich ein schönes Haus in Heidelberg gekauft.«
»Und was arbeitet er?«
»Meines Wissens nichts. Vermutlich lebt er von seiner Abfindung.«
»Ach was.« Körner schwieg für zwei Atemzüge. »Und wie geht’s Jasmin? Seiner Frau?«
»Sie ist tot.«
»Woran ist sie … war sie krank?«
»Ich weiß es nicht.«
»Justus hat sie aber nicht etwa …?« Erschrocken brach er ab.
»Was?«
»Nichts.«
»Was wollten Sie sagen?«
»Nichts. Unfug. Vergessen Sie’s. Das arme Mädchen. Lea war so ein nettes, aufgewecktes Kind. Manchmal hat Justus sie mit ins Labor gebracht, wenn es mit der Tagesmutter Probleme gab, zum Beispiel. Alle haben sie gern gehabt. Man konnte so herrlich rumblödeln mit dem Kind. Sie hat sich nichts gefallen lassen und ordentlich austeilen können. Wenn ich jemals eine Tochter haben sollte, habe ich oft gedacht, dann bitte eine wie Lea. Was ist aus ihr geworden? Wenn ich richtig rechne, ist sie ja noch nicht alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen.«
»Lea lebt seit dem Sommer bei ihrem Vater.«
»Wirklich?«, entfuhr es meinem Gesprächspartner.
»Das überrascht Sie?«
»Aber nein …«, murmelte er verwirrt. »Natürlich nicht. Wo die Mutter nicht mehr lebt.«
»Mehr wollen Sie nicht dazu sagen?«
»Nein«, erwiderte er mit schon wieder souveräner Stimme. »Mehr möchte ich nicht dazu sagen.«
Jasmin Lassalle war vor zwei Jahren und sieben Monaten gestorben, fand ich rasch heraus. Als Todesursache hatte das zuständige Standesamt in Bad Homburg »Unfall« registriert.
Auch Sönnchen hatte in der Zwischenzeit zu Ende telefoniert. In dem Augenblick, als ich auflegte, tauchte ihr Kopf im Türspalt auf.
»Darf ich?«
Ich winkte sie herein. Sie schloss die Tür sorgfältig hinter sich und nahm auf demselben Stuhl Platz wie vorhin.
»Also, dieser Herr Lassalle, man hört ja allerhand.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Dass er säuft wie ein Loch, zum Beispiel.«
»Das weiß ich schon.«
»Und sich regelmäßig mit seiner Tochter fetzt, dass es die halbe Straße mitkriegt. Meine älteste Cousine väterlicherseits wohnt in der Kirschgartenstraße, das ist eine Parallelstraße zu der, wo dieser Dr. Lassalle wohnt. Trotzdem kennt sie den Namen. Es wird wohl viel geredet, und er ist nicht gerade beliebt in der Nachbarschaft. Er wohnt natürlich auch noch nicht so lang da, in der
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