Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Untersuchungen machen, für die ihnen an der Uni die Geräte fehlten. Die beiden – Justus und der Prof – haben die Promotion sozusagen gemeinsam betreut.«
»Bisher sehe ich daran nichts Merkwürdiges.«
»Sie wissen, worum es in Justus’ Doktorarbeit ging?«
»Nein, woher?«
»Uranhaltige Stähle. Für Laien: extrem schwere und harte Legierungen, die üblicherweise olivgrün lackiert werden.«
»Etwas Militärisches?«
»Panzerstähle. Man kann auf der anderen Seite auch prima Artilleriegeschosse daraus machen mit enormer Durchschlagskraft. Justus hat seine Forschungen hier im Labor fortgeführt. Das Management hat davon gewusst und ihn gewähren lassen, obwohl solche Stähle nicht gerade unser Kerngeschäft sind. Am Ende hat er meines Wissens sogar ein kleines Budget dafür gehabt. Aber das lief alles nur halb offiziell, und Justus hat auch nicht gerne darüber gesprochen. Und dieser Doktorand nun – ich weiß nur noch den Vornamen: Moshe, er war Jude. Also, Israeli. Alle haben ihn nur beim Vornamen gerufen. Er hat mir mal erklärt, Moshe heißt Moses. Er hatte Familie, zu Hause in Nazareth. Frau und zwei Kinderchen mit schwarzen Wuschelköpfen. Ständig hat er seine Fotos herumgezeigt. Und nachdem er ungefähr ein Dreivierteljahr hier war, hieß es eines Morgens auf einmal, die Frau und die Kinder sind verschwunden. Moshe war völlig panisch. Ständig hat er am Handy gehangen und auf Hebräisch telefoniert. Oder Arabisch, keine Ahnung. Wir waren alle sehr beunruhigt, aber keiner hat gewusst, was wirklich los war. Und am nächsten Tag ist dann auch Moshe nicht mehr aufgetaucht. Nicht mal seinen Schreibtisch hat er aufgeräumt. Und das ist die ganze Geschichte.«
Eine Weile saß ich reglos am Schreibtisch und dachte nach. Dann griff ich erneut zum Hörer und drückte die Kurzwahltaste, die mich mit Sönnchen verband.
»Das Revier Mitte hat am Samstag Lassalles Hemd sichergestellt«, sagte ich. »Am Ärmel war Blut, und ich will, dass das heute noch ins Labor kommt. Ich weiß nicht, wie ich es abrechne, aber irgendwas wird mir schon einfallen.«
»Denken Sie, er hat seiner Tochter was angetan?«, fragte sie bestürzt.
Warum wollten immer alle wissen, was ich dachte?
Bevor ich antworten konnte, sagte sie: »Hier kommt gerade ein Gespräch rein, Sekunde.«
»Dellnitz«, meldete sich eine warme Frauenstimme. »Mein Sohn ist verschwunden.«
»Henning?«
»Er ist nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Und eben erfahre ich, dass er überhaupt nicht in der Schule war. Außerdem ist sein Handy ausgeschaltet. Das macht er sonst nie.«
»Ist er mit seinem Motorroller unterwegs?«
»Er ist immer auf diesem schrecklichen Ding unterwegs, seit sein Vater es ihm zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hat.«
»Hatten Sie Streit?«
»Wir haben eigentlich nie Streit. Es war alles wie immer, heute Morgen.«
»Haben Sie irgendeine Idee, was dahinterstecken könnte? Hat er vielleicht Andeutungen gemacht?«
»Nein, er hat keine Andeutungen gemacht. Ich bin noch völlig erschlagen, dass er nicht in der Schule war. Dass er mich belogen hat. Aber – das ist vielleicht wichtig: In den vergangenen Tagen war er sehr bedrückt. Ständig hat er sich in seinem Zimmer eingeschlossen und Musik gehört, über Kopfhörer, aber so laut, dass man es noch durch die geschlossene Tür hören konnte. Wie oft habe ich dem Jungen gesagt, er wird noch taub von diesem Lärm …«
»Ich vermute, es geht um eine gewisse Lea. Henning ist verliebt.«
»Verliebt?«, fragte die Mutter, als hätte sie noch selten etwas so Absurdes gehört.
»Irgendwann erwischt es jeden zum ersten Mal.«
»Natürlich … Aber Henning, ich weiß nicht. Können Sie mir die Adresse dieser … Lea geben? Eine Telefonnummer?«
»Sie ist derzeit nicht zu Hause.«
»Was heißt das? Verreist? Für länger?«
Es blieb mir nichts anderes übrig, als Frau Dellnitz wenigstens in groben Zügen einzuweihen. Was ich ihr erzählte, trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei.
Anschließend wählte ich noch einmal die Nummer von Justus Lassalle. Wieder erfolglos.
»Der hockt in seinem Wohnzimmer und arbeitet an seinem Laptop«, wusste Sönnchen zu berichten, als sie mir kurze Zeit später die Unterschriftenmappe brachte. »Seit Sie gestern bei ihm gewesen sind, hat er das Haus nicht verlassen. Und denken Sie dran, Herr Gerlach, morgen ist Nikolaus. Ihre Töchter werden die Stiefel vor die Tür stellen.«
»Wenn ich Sie nicht hätte, Frau Walldorf.«
Ich hatte es
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