Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
tatsächlich vergessen.
Sie grinste vergnügt und schloss die Tür leise hinter sich.
Der Rest des Nachmittags verlief friedlich. Keine neuen Nachrichten, keine neuen Alarmmeldungen. Mein Aktenstapel nahm zügig ab, und irgendwann, als es draußen längst dunkel war, verabschiedete Sönnchen sich in den Feierabend. Eine Viertelstunde später knipste auch ich meine Schreibtischlampe aus, machte auf dem Heimweg einen Abstecher zu »Kaufland« an der Kurfürstenanlage und kaufte hastig Füllmaterial für das Schuhwerk meiner Töchter zusammen. Zum Glück hatte man für phantasielose Hilfsnikoläuse wie mich fertige Sortimente im Angebot.
Als ich nach Hause kam, hockten sie zu dritt vor Sarahs PC, meine Zwillinge und Henning, genannt Chip. Sie sahen kaum auf, als ich das Zimmer betrat. Vermutlich gab es wieder einmal Computerprobleme.
»Ihre Mutter sucht Sie«, sagte ich zu Henning. »Sie hat mich angerufen und wollte Sie zur Fahndung ausschreiben lassen.«
Es dauerte ein wenig zu lange, bis er aufsah. »Mama spinnt, Entschuldigung. Sie denkt immer noch, ich wäre fünf, und dreht durch, wenn sie mal für eine Minute nicht weiß, wo ich stecke.«
»Sie waren heute nicht in der Schule. Ihr Handy ist aus. Das sind auch für andere Eltern Gründe, sich Gedanken zu machen.«
Sein Blick irrte ab. »Stimmt«, gab er unglücklich zu. »Ich … Haben Sie ihr gesagt, dass ich bei Ihnen war?«
»Nein.«
»Danke.«
»Krank sind Sie ja anscheinend nicht mehr.«
»Aber mir geht’s trotzdem schlecht. Bin ein bisschen durch die Gegend gefahren. Ich musste … nachdenken.« Er machte eine hilflose Bewegung. Die Frage, ob sich dieses Nachdenken um eine gewisse Lea gedreht hatte, ersparte ich ihm und mir.
»Sie sollten Ihre Mutter gleich anrufen.«
»Mach ich. Klar. Mach ich.«
7
Die Zwillinge nahmen den Inhalt ihrer Stiefel mit geschäftsmäßigem Wohlwollen zur Kenntnis. Chip war am vergangenen Abend erst nach zehn aufgebrochen und hatte geschworen, auf direktem Weg nach Hause zu fahren. Über das, was die drei stundenlang vor dem PC getrieben und geflüstert hatten, verweigerten meine Töchter die Aussage. Ihre Behauptung, Sarahs E-Mail-Programm habe Probleme gemacht, klang nicht glaubwürdig.
»Chip hat Leas Handy gehackt«, gestand Louise schließlich beim gemeinsamen Frühstück, als ich nicht lockerließ.
Ich nahm die Tasse wieder vom Mund, aus der ich hatte trinken wollen. »Was genau heißt das?«
»Er kann jetzt ihre Mailbox abhören, zum Beispiel.«
Mir verschlug es die Sprache. »Wie … wie geht das denn?«
»Ganz easy eigentlich.« Sarah erklärte mir etwas von »Call ID Spoofing«.
»Die meisten nehmen als PIN ja ihren Geburtstag oder sonst was, was man sich gut merken kann.«
»Euch ist klar, dass das kriminell ist?«
»Wir haben ja nichts gemacht.«
Ich nahm die Tasse wieder hoch, trank einen Schluck und verbrannte mir die Zunge am heißen Kaffee.
»Und was hat er … hat er irgendwas Interessantes rausgefunden?«
»Lea hat vier nicht abgehörte Nachrichten auf der Mailbox und siebzehn Anrufe in Abwesenheit ohne Nachricht. Acht Mal war’s die Marchow, ein paar Mal Chip selber und dann noch ein paar andere, die wir nicht kennen.«
»Chip ist ziemlich verliebt in Lea, was?«
»Voll krank ist der«, platzte Louise heraus. »Total gestört.«
»Wir versuchen dauernd, ihm klarzumachen, dass er die blöde Schnepfe vergessen muss«, fügte Sarah wütend hinzu. »Dass sie ihn verarscht und abzockt. Aber dann wird er böse und sagt, wir kennen sie überhaupt nicht. In Wirklichkeit wär sie ganz anders.«
Was man so denkt, wenn man unglücklich verliebt ist.
»Der ist so was von verknallt in die, dass er ihr am Freitag sogar nachgefahren ist. Auf seinem Roller! Bei der Affenkälte!«
Zögernd stellte ich die Tasse wieder ab. »Ich denke, er war krank?«
»Das ist ja der Wahnsinn!«, schimpfte Louise. »Sogar Fieber hat er gehabt! Und gurkt vier Stunden durch die Gegend. Zwei Stunden hin, zwei zurück, und alles nur wegen Lea, dieser blöden Fotze …«
»He!«, unterbrach ich sie scharf. »Was sind das denn für Ausdrücke?«
»Ist doch wahr! Sogar seinen alten Laptop hat er ihr geschenkt und Internet installiert und alles. Und die dumme … Kuh gibt ihm ein Küsschen, und am nächsten Tag ist er wieder Luft für sie …«
»Der war ja schon am ersten Tag total in sie verschossen.«
»Die haben sich schon vorher gekannt«, glaubte Louise.
Erst jetzt kam in meinem Bewusstsein an, was ich eben
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