Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
sein, ist auch alt genug für schmerzhafte Wahrheiten: »Henning wäre nicht der Erste, der aus Liebeskummer von einer Brücke springt.«
»Und meinst du, er ist?«
»Solange wir ihn nicht gefunden haben, ist alles möglich. Kann genauso gut sein, dass er mit der Bahn weiter nach Straßburg gefahren ist, um nach Lea zu suchen. Oder er ist zu Fuß über die Brücke und von dort mit dem Bus weiter. Vielleicht hat er sie auch längst aufgespürt. Es gibt tausend Möglichkeiten.«
Von der dunkelhaarigen jungen Frau in der Straßburger Gerichtsmedizin hatte ich nichts erzählt.
Meine Mädchen hatten lange geschwiegen und waren später mit hängenden Köpfen zur Schule getrottet. Nach Lea hatten sie nicht gefragt.
Vor den Fenstern schien heute eine blasse Wintersonne von einem tiefblauen Himmel. Ein starker, warmer Wind ging. Die Lufttemperatur hatte am Morgen elf Grad plus betragen. Föhnwetter.
Hennings Rucksack war inzwischen auf dem Weg nach Heidelberg, erfuhr ich kurze Zeit später. Und Klara Vangelis hatte bereits mit Leas Zahnarzt in Bad Homburg gesprochen. Die Röntgenbilder von den Zähnen seiner jungen Patientin werde er ihr gerne überlassen, sobald sie ihm einen richterlichen Beschluss vorlegen könne, hatte er ihr charmant, aber entschieden erklärt.
Den ganzen Vormittag über war ich ungewohnt nervös und unkonzentriert. Als drohte eine Gefahr, die ich nicht benennen konnte. Alle paar Sekunden sichtete ich meinen E-Mail-Eingang. Aber es kamen keine Neuigkeiten. Weder aus Straßburg noch aus Kehl.
»Sehr freundlich, dass Sie persönlich vorbeischauen«, begrüßte mich Hennings Mutter, als sie mir die Tür öffnete. Dorothee Dellnitz war eine kräftig gebaute Frau, die über die Jahre einige Kilo mehr angesetzt hatte, als ihr vermutlich lieb war. Sie wirkte gefasst, war jedoch blass und ungeschminkt. Henning war ihr einziges Kind, hatten mir meine Töchter erzählt.
»Sie haben ihn noch nicht gefunden?«, fragte sie ängstlich.
»Bisher leider nur seine Vespa und seinen Rucksack.«
»Ist er …? Muss ich also …?«
»Solange wir keinen Beweis haben, gibt es Hoffnung«, versuchte ich, ihre Sorgen zu zerstreuen.
»Hoffnung«, wiederholte sie tonlos, als müsste sie erst überlegen, was das seltsame Wort bedeutete.
Die großzügige und wohlriechende Vierzimmerwohnung, die ich nun betrat, lag im obersten Stockwerk eines großen Wohnkomplexes im Süden Heidelbergs. Acht Stockwerke unter uns rauschte der Verkehr die Römerstraße entlang, Lassalles Haus lag nur wenige Hundert Meter entfernt. Armut herrschte hier nicht, fiel mir schon im Flur auf. Den Boden bedeckte eine schwere, weiche Perserbrücke, an der Garderobe hing ein schwarzer Pelzmantel, und obwohl allein zu Hause und auf Besuch nicht vorbereitet, trug Frau Dellnitz ein hellgraues, raffiniert geschnittenes Kleid, das sie schlanker wirken ließ, als sie war.
Unter ihren wasserblauen Augen hingen dunkle Ringe. Vermutlich hatte sie nicht viel geschlafen in den vergangenen beiden Nächten. Wir betraten den Wohnraum mit Blick auf die Oberrheinebene. Die Fernsicht war wegen des Föhns atemberaubend, sogar die Kühltürme des Kernkraftwerks Philippsburg waren problemlos auszumachen. Das Wohnzimmer war vollgestopft mit wahrscheinlich kostbaren Antiquitäten. Außerdem standen, saßen oder lagen überall liebevoll ausstaffierte Puppen herum, die ebenfalls alt und wertvoll aussahen. Vermutlich eine Sammelleidenschaft der Hausherrin. An der Längswand stand ein schönes, nussbaumfarbenes Klavier mit Kerzenleuchtern, das offenbar regelmäßig benutzt wurde. Spuren eines männlichen Bewohners entdeckte ich nicht.
Sie hatte meinen Blick bemerkt.
»Ich spiele ein wenig«, sagte sie mit wehmütigem Lächeln. »Früher war ich sogar mal richtig gut, aber inzwischen …«
Wir nahmen Platz auf zwei mit Brokat bezogenen und außerordentlich bequemen Sesseln, die auf mich wirkten wie aus einem Museum entwendet. Ein üppiger Blumenstrauß duftete auf einem hohen Sideboard so intensiv, als stünde er kurz vor dem Verwelken.
»Ihr Sohn ist sehr in Lea verliebt«, begann ich. »Ein bisschen zu sehr vielleicht.«
Die Mutter nickte mit so abwesender Miene, als wären ihre Gedanken noch bei ihrem Klavier.
»Ich kenne sie«, murmelte sie. »Zwei oder drei Mal war sie hier. Henning hat ihr – wie soll man es nennen – Computerunterricht gegeben. Sie hatte einen Laptop mit einer veralteten Windows-Version. Er hat ihr eine moderne installiert und noch einiges
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