Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
erklären, dass sich die Sache erledigt hat.«
Während wir sprachen, waren wir die geschwungene Holztreppe ins Obergeschoss hinaufgestiegen, wo sich die Schlafzimmer befanden. Lassalle deutete auf eine Tür, blieb einige Schritte davor stehen. Ich drückte die Klinke. Die Tür schwang auf.
»Ich dachte, hier ist immer abgeschlossen?«
Er zuckte die kräftigen Schultern und zog eine traurige Grimasse. »Hat sie wohl ausnahmsweise vergessen.«
Ich betrat Leas Reich.
Das Zimmer sah aus, wie Zimmer weiblicher Teenager vermutlich überall in der westlichen Welt aussehen. Dasselbe Tohuwabohu aus herumliegender Kleidung, Schuhen, DVDs, Schulbüchern, Papiertaschentüchern, Strümpfen, leeren oder vermeintlich leeren Batterien, tragbarer Unterhaltungselektronik, Kopfhörern, Tinnef und Tand, wie ich es von zu Hause nur zu gut kannte. In einer Ecke stand ein kleiner, flacher Fernseher samt verstaubtem DVD-Spieler. An den Wänden hingen hier allerdings nicht die aktuell angesagten männlichen Popstars, sondern großformatige und ordentlich gerahmte Fotos, ausschließlich von Frauen. Schöne Frauen waren zu sehen, in Alltagssituationen, beim Einkaufen, mit Kopftuch beim Fensterputzen, beim Kinderwagenschieben, beim Stillen auf der Parkbank.
»Sie hat früher viel fotografiert«, sagte Lassalle leise, fast entschuldigend.
»Sie hat Talent.«
»Fand ich auch«, erwiderte er noch leiser. »Aber wie ich ihr das mal gesagt habe, hat sie noch am selben Tag die Kamera weggepackt und nie wieder angerührt.«
Das Fenster ging zum verwilderten Garten und sah aus, als wäre es beim Erstbezug des Zimmers zum letzten Mal geputzt worden. Der schwache Duft eines frischen Parfüms hing in der Luft. Auf der grünlich schimmernden Milchglasplatte des kleinen Schreibtischs türmten sich Hefte, Bücher und Zettel. Das letzte freie Plätzchen belegte ein zugeklappter, nicht mehr ganz taufrischer Laptop. Auf dem zerwühlten Bett lag ein einladend ausgebreiteter weinroter Schlafanzug aus dünnem Stoff und mit weißen Wölkchen auf der Brust. Über dem Bett hing ein einzelnes, kleineres Foto, das eine keck in die Kamera strahlende junge Frau zeigte.
»Jasmin«, murmelte Lassalle. »Leas Mutter.«
»Die Ähnlichkeit ist verblüffend.«
»Es ist schon ein paar Jahre alt. War’s das dann?«
»Haben Sie den Eindruck, dass hier irgendwas verändert ist? Dass etwas fehlt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Die Kollegen, die gleich kommen, werden sich die Fußspuren im Keller ansehen und nach Fingerabdrücken suchen. Das übliche Programm in solchen Fällen. Falls Sie später feststellen sollten, dass doch etwas fehlt, geben Sie mir bitte Bescheid.«
Noch ein letzter Rundblick durch Leas Chaosreich.
»Wo finde ich Leas Haarbürste?«
»Im Bad. Ich hole sie. Ich bringe Ihnen auch noch die Zahnbürste. Sie hat manchmal Zahnfleischbluten gehabt in letzter Zeit.«
Mit einem Mal war Lassalles Aggression verflogen, und er klang fast kleinlaut.
»Sie wollten in Bad Homburg anrufen«, erinnerte ich ihn.
Bereitwillig zückte er sein Handy, suchte eine Nummer heraus, ließ es eine Weile läuten. »Wahrscheinlich sind sie bei der Therapie. Der Alte kriegt irgendeine Behandlung, die bei Alzheimer helfen soll.« Ratlos hob er die Achseln, ließ sie wieder fallen. »Ich versuch’s später noch mal.«
Es läutete unten an der Tür. Die Spurensicherung. Ich hatte wenig Hoffnung, dass die Tätigkeit der Kollegen zu mehr führen würde als zur Verschwendung von Arbeitszeit und Steuergeldern. Außerdem hatte ich schon eine Vermutung, wer das Kellerfenster eingeschlagen und große Fußspuren im Staub hinterlassen hatte.
Auf meinem Schreibtisch lag die angeforderte Liste von Hennings Mobilfunkgesprächen und der jeweiligen Funkzellen, in denen er sie geführt hatte. Seit Montagmorgen war sein Handy nur selten und immer nur für kurze Zeit im Netz gewesen. Einer der Orte, wo er sich längere Zeit aufgehalten hatte, war die Heidelberger Weststadt. Das waren die Stunden, die er zusammen mit meinen Zwillingen vor dem PC verbracht hatte. Auch in dieser Zeit hatte er es jedoch immer nur für wenige Minuten eingeschaltet, vermutlich in der Hoffnung auf eine Nachricht von Lea. Anschließend hatte er es jedes Mal wieder ausgemacht, um für seine Mutter nicht erreichbar zu sein. Die Nacht über war es so weitergegangen.
Das vorerst letzte Lebenszeichen von Henning stammte vom Vormittag, elf Uhr fünfzehn, vor gut drei Stunden erst. Dieses Mal war sein Handy etwa zehn
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