Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
streicheln, bekam ich einen Klaps auf die Finger und einen feucht-heißen Kuss auf den Mund.
9
Am Mittwochmorgen empfing mich Sönnchen mit einem geheimnisvollen Lächeln in den Augenwinkeln.
»Sie haben Besuch«, sagte sie mit Seitenblick auf die geschlossene Tür zu meinem Büro.
»Wer?«
Das wollte sie nicht verraten.
Mein Besuch war weiblich, eher klein gewachsen, mit rabenschwarzer Lockenpracht um den Kopf und steckte wie üblich in einem selbst geschneiderten Designerkostüm – Klara Vangelis, meine Erste Kriminalhauptkommissarin und seit Ende September Mutter eines kleinen Sohnes mit unruhigem Schlaf und kräftiger Stimme.
Wir schüttelten schwungvoll Hände.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte ich, nachdem wir ausreichend Wiedersehensfreude geäußert hatten.
»Mir einen Schreibtisch zuweisen.«
»Wollten Sie nicht sechs Monate Elternzeit nehmen?«
»Wollte ich, ja.«
»Nicht, dass ich was dagegen hätte, wenn Sie wiederkommen, aber was machen Sie mit Ihrem kleinen Konstantin?«
Sie strich versonnen den Rock ihres edlen Kostüms glatt. Anfangs hatte ich mich oft gewundert, wie sie sich als Beamtin die kostbaren Kleidungsstücke leisten konnte, in denen sie immer zur Arbeit erschien. Es hatte mich einige Zeit gekostet herauszufinden, dass sie sich die Sachen selbst schneiderte. Sie besuchte teure Boutiquen, probierte edle Stücke an, machte sich noch in der Umkleide Skizzen, ging wieder nach Hause und warf die Nähmaschine an.
»Ach, Herr Gerlach.« Sie seufzte. »Die griechische Großfamilie hat einen großen Vorteil und einen mindestens ebenso großen Nachteil. Der Nachteil: Man ist nie allein, wenn man mal seine Ruhe haben möchte. Der Vorteil: Man ist nie allein, wenn man Hilfe braucht. Meine Mutter mischt sich sowieso ständig ein, wenn es um das Kind geht. Jetzt kann sie endlich alles richtig machen, was ich ihrer Meinung nach bisher falsch gemacht habe.«
»Ihren Schreibtisch belegt im Moment Frau Krauss.«
»Sie kann von mir aus gerne bei ihrem Sven sitzen bleiben. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, nehme ich einfach Evalinas alten Platz. Der müsste ja jetzt frei sein.«
Evalina Krauss und Sven Balke waren seit einiger Zeit ein Paar. Sie lebten zusammen in einer kleinen Wohnung in Schlierbach und wollten natürlich auch während der Dienstzeit nicht getrennt sein, weshalb Krauss die Gelegenheit genutzt hatte, als Vangelis’ Schreibtisch frei wurde.
»Das ist er. Wann wollen Sie anfangen?«
»Jetzt. Deshalb bin ich hier.«
Ich lachte. »Okay. Ich habe auch gleich einen Job für Sie.«
Zehn Minuten später wusste Vangelis alles Wesentliche über Lea Lassalle und Henning Dellnitz.
»Da Sie offiziell nicht im Dienst sind, können Sie sich auch mit nicht offiziellen Dingen befassen«, beendete ich meinen Bericht.
»Leas Blutgruppe kennen wir aber noch nicht?«
»Haarbürste und Zahnbürste sind seit gestern im Labor. Vielleicht fragen Sie da gleich mal nach?«
Sie hatte schon diesen Glanz im Blick, den sie immer bekam, wenn sie ein Ziel vor sich sah.
Während wir sprachen, sah ich nebenbei meine E-Mails durch. Die Spurensicherung hatte in Lassalles Haus keine Fingerabdrücke des Einbrechers gefunden, aber immerhin seine Schuhgröße bestimmen können: fünfundvierzig oder sechsundvierzig.
In Kehl war im Lauf der Nacht Hennings Rucksack gefunden worden. Im Gestrüpp des Bahndamms, der zur Eisenbahnbrücke in Richtung Frankreich führte. Der Fundort lag etwa zweihundert Meter nördlich von der Europabrücke und ebenso weit vom Bahnhof entfernt. Von Henning selbst keine Spur. Die tote junge Frau in Frankreich war noch immer nicht identifiziert. All das fand ich äußerst beunruhigend, und inzwischen war ich sehr froh, ab sofort in Klara Vangelis eine zuverlässige Unterstützung zu haben.
»Um den Zahnarzt in Bad Homburg werde ich mich auch gleich kümmern«, sagte Vangelis und konnte keine Sekunde länger sitzen bleiben.
Jetzt erst fiel mir ein, dass Lassalle mir den Namen dieses Zahnarztes hatte besorgen wollen und auch wegen Leas Handygesprächen bislang nichts von sich hatte hören lassen.
Klara Vangelis verließ mein Büro mit der Eile eines Menschen, für den es auf der Welt nichts Schöneres gibt als seine Arbeit.
Die Zwillinge hatten mir beim Frühstück die Frage gestellt, die mich selbst zurzeit nicht mehr losließ:
»Denkst du, er hat sich was angetan, Paps?«
Es hätte keinen Sinn gehabt, die Sache zu beschönigen. Wer alt genug ist, bis Mitternacht unterwegs zu
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