Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
keinen Computer und kein Internet und Elektropost schon überhaupt nicht. Also, haben Sie nun ein Fax, oder soll ich’s Ihnen vorlesen?«
»Wie viele Namen sind es denn?«
»Elf. Sind doch ein paar mehr gewesen, als ich gedacht habe. Komisch eigentlich, dass wir pleitegegangen sind, bei so viel Nachfrage.«
Ich diktierte ihm die Nummer des Geräts, das im Vorzimmer neben Sönnchens Schreibtisch stand und in letzter Zeit kaum noch benutzt wurde. Dann rief ich Klara Vangelis zu mir.
»Ich weiß, in einer Stunde fängt die Weihnachtsfeier an«, sagte ich und überreichte ihr das Fax aus Ostbayern. »Aber vielleicht könnten Sie bis dahin schon mal einen Blick drauf werfen …?«
Sie lächelte charmant. »Erstens feiern wir in Griechenland Weihnachten am ersten Januar und nicht am vierundzwanzigsten Dezember. Zweitens habe ich deutsche Weihnachtsfeiern noch nie leiden können. Und drittens bin ich offiziell nicht im Dienst und darf deshalb schwänzen. Sobald ich etwas habe, rufe ich Sie auf dem Handy an, okay?«
Unser großer Besprechungsraum duftete nach Tannenharz, Glühwein und Männerschweiß, als ich einige Minuten verspätet eintrat. Viele standen noch, die meisten schon mit einem dampfenden Glas oder einem Bier in der Hand. Einige tranken Wasser. Das waren die, die den Betrieb aufrechterhalten und ausrücken mussten, falls draußen in der Welt die Polizei gebraucht wurde.
Um zehn nach sechs trat Liebekind ans Rednerpult und hüstelte ins Mikrofon. Der Lärm ebbte ab. Stühle schrammten. Man setzte sich. Ich hatte mir fürs Erste sicherheitshalber auch Wasser eingeschenkt und lauschte Liebekinds Ansprache. Wir waren nicht nur die Besten, erfuhr ich, wir waren im Lauf des zu Ende gehenden Jahres sogar noch besser geworden, trotz der ständigen Personal-und Budgetkürzungen, die Stuttgart uns aufs Auge drückte. Die Zahl der Verkehrsunfälle war in etwa konstant geblieben. Die Zahl der Fälle von Ruhestörungen hatte leicht zu-, die der Drogentoten dagegen geradezu dramatisch abgenommen, was nur ein Erfolg unseres engagierten und hartnäckigen Kampfes an der Drogenfront sein konnte. Wie bei Weihnachtsfeiern üblich, wurden Zahlen heruntergebetet, die Neuen begrüßt, die Namen derer genannt, die uns verlassen hatten, zweier Toter gedacht. Dann war ich an der Reihe. Ich lobte die einsatzfreudige Mann-und Frauschaft, berichtete von steigenden Aufklärungsquoten und technischen Fortschritten, streute die eine oder andere Anekdote ein, unter anderem einen in Plankstadt an einem französischen Wegweiser zerschellten Audi, und dann trillerte mitten im Satz mein Handy, das leise zu stellen ich vergessen hatte. Dieser Umstand sorgte für große Heiterkeit und das abrupte Ende meine Ansprache.
Es war Vangelis. »Haben Sie Zeit?«
»Und wie«, sagte ich und verdrückte mich, nachdem ich noch rasch die eine oder andere feuchte Hand geschüttelt hatte. Liebekind stand ebenfalls in der Nähe der Tür und schien auch nur eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um verschwinden zu können. Betriebsfeiern werden ohnehin erst richtig lustig, wenn die Chefs gegangen sind.
»Er hat alle Adressen herausgesucht, die in Heidelberg und im Umkreis von hundert Kilometern liegen«, begann meine unersetzliche Erste Kriminalhauptkommissarin, als wir in ihrem Büro saßen, das nur von ihrer Schreibtischlampe beleuchtet wurde. Ihr Stift deutete auf die erste Zeile der handgeschriebenen Liste.
»Der hier ist vor zehn Jahren verstorben. Die Witwe sagt, die Anlage steht immer noch in ihrem Haus, und sie weiß nicht mal, wie man das Ding einschaltet.«
Nächste Zeile.
»Annegret Scholpp hat die Stereoanlage damals ihrem musikalischen Sohn zum Abi gekauft. Der ist aber vor Jahren an einer Überdosis gestorben und hatte das teure Stück vermutlich schon lange vorher zu Geld gemacht. Nummer drei war damals und ist immer noch Musiklehrer in Bensheim. Seine Anlage hütet er wie seinen Augapfel. Aber als Leas Lover kommt er nicht infrage. Der Mann ist dreiundsechzig …«
Nach und nach wanderte der Stift nach unten. Der Name in Zeile neun lautete Gernot Schiller. Die Adresse war in Heidelberg, am südlichen Ende der Görresstraße. Nicht allzu weit von Leas Vaterhaus entfernt.
»Gernot Schiller ist vor sieben Jahren verstorben«, sagte Vangelis, aber ein kurzes Flackern in ihrem Blick ließ mich ahnen, dass wir auf eine heiße Spur zusteuerten. »Unter der Adresse ist allerdings immer noch ein Mann namens Schiller gelistet. Vorname Wolfram,
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