Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
Schmiedeeisen.
An der aufwendig verglasten Wohnungstür im ersten Obergeschoss musste ich ein zweites Mal läuten. Frau Voss öffnete nach Sekunden. Nein, sie öffnete nicht, sie riss die Tür auf. Sie war kleiner, als ich sie mir vorgestellt hatte. Und molliger. Und sie war mir auf den ersten Blick sympathisch. Die schmutzigen Reitstiefel, die sie vor der Tür abgestellt hatte, sahen aus, als käme sie direkt aus dem Stall. Den waldgrünen Jeep Cherokee mit Düsseldorfer Kennzeichen hatte ich unten am Straßenrand gesehen. Passend zu den Stiefeln hatte Stroh an den Kotflügeln geklebt und eine Menge Schmutz von nicht befestigten Fahrwegen.
Gröwers Witwe drückte herzhaft meine Hand. Das glatte, friesenblonde Haar hatte sie – wie sonst? – zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Kommen Sie herein, Herr Gerlach«, rief sie. »Und verzeihen Sie das Chaos. Ich will nicht viel mitnehmen, nur die wichtigsten Dinge, Dokumente, Briefe, die nicht in fremde Hände kommen sollen. Können Sie mir übrigens jemanden empfehlen, der Haushaltsauflösungen macht und einen nicht allzu sehr behumpst?«
Wir gingen einen Flur entlang, auf dessen Boden ehrwürdiges Parkett knarrte, betraten einen beeindruckend großen und sonnigen Wohnraum mit Blick auf alles Sehenswerte, was Heidelberg zu bieten hatte.
»Ist das eine Eigentumswohnung?«, fragte ich.
Verena Voss nickte gleichgültig.
»Sie muss ein Vermögen gekostet haben!«
»Eine Million sollte sie schon bringen«, sagte sie in einem Ton, als spräche sie vom Preis einer gebrauchten Waschmaschine.
Was ich bisher von der Einrichtung gesehen hatte, wirkte auf mich, als hätte ein Innenarchitekt den Auftrag erhalten, eine mondäne Altbauwohnung standesgemäß modern auszustatten. Das Chaos, das Gröwers Witwe in der kurzen Zeit angerichtet hatte, war beeindruckend. Sämtliche Schubladen waren aufgezogen. Auf der Rauchglasplatte des Esstischs stapelten sich Papiere und Bücher.
»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich es so offen ausspreche«, sagte ich. »Sie scheinen sich mit dem plötzlichen Tod Ihres Gatten schnell abgefunden zu haben.«
Verena Voss sah zum Fenster und biss für einen winzigen Moment die Zähne zusammen.
»Carsten und ich …«, begann sie und verstummte wieder. Atmete tief ein und aus. »Sagen wir es so: Ich lebe mein Leben, und er hat seines gelebt. Wenn Sie so wollen, dann war meine Ehe ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Vater konnte durch Carsten seine Kontakte nach Berlin pflegen. Carsten wäre ohne Vaters Beziehungen nicht so rasch nach oben gekommen. Vaters Wort gilt in der Partei immer noch viel. Auch wenn er längst kein Amt mehr bekleidet.«
»Und Sie selbst?«
Sie zog den Mund schief. Stieß die Luft durch die Nase. »Man hat seine Pflichten der Familie gegenüber.«
»Sie stammen aus Norddeutschland?«
»Hamburg.« Nun lächelte sie wieder. »Schön, dass man das immer noch hört, nach all den Jahren im Rheinland.«
»Sind Sie – ich hoffe, ich darf das fragen – mit dieser Werft verwandt? Blohm und Voss?«
Jetzt lachte sie sogar laut. »Um tausend Ecken vielleicht wirklich. Aber ich bin nicht erbberechtigt, falls Sie darauf anspielen. Vater hatte früher ein kleines Aktienpaket. Glücklicherweise hat er es rechtzeitig verkauft vor der großen Werftenkrise. Vater hat zeitlebens ein Näschen für Geldanlagen gehabt. Im Gegensatz zu Carsten, übrigens.«
»Hat er sich … verspekuliert?«
»Vater musste ihm zweimal den Hals retten, als er sich mal wieder hoffnungslos verzockt hatte.«
Im Stehen nahm ich den Laptop hoch, den ich in der Hand gehalten hatte, und klappte ihn auf.
»Ich muss Ihnen etwas zeigen, Frau Voss, das Ihnen nicht gefallen wird.«
»Oh, ich habe ein robustes Gemüt.« Zum ersten Mal klang ihr Lachen traurig. Ich startete das kurze Video, das Balke aus den Schnipseln von Leas Laptop zusammenmontiert hatte. Verena Voss trat einen Schritt näher und sah stumm zu.
»Widerlich«, sagte sie am Ende nur.
»Ist das Ihr Mann?«
»Nein.«
»Sie sind sich sicher?«
»Das ist nicht Carsten. Und es ist übrigens auch nicht sein Schlafzimmer mit dem geliebten Wasserbett. Ich darf mal kurz?«
Mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, der Widerspruch nicht gewohnt ist, nahm sie mir den Laptop aus der Hand, während sie mich in Gröwers kalt und unpersönlich eingerichtetes Schlafzimmer führte.
»Sehen Sie sich um – nichts passt.«
Sie hatte recht. Gröwers Schlafzimmer war im Stahl-Glasund-Spiegel-Stil
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