Alexander Gerlach 09 - Das vergessene Maedchen
eingerichtet. Die dominierenden Farben waren Schwarz und Weiß. Inzwischen war ich überzeugt, dass er die Ausstattung seiner Wohnung wirklich einem Innenarchitekten überlassen hatte. Das Schlafzimmer, das man im verwackelten Video sah, war dagegen in warmen Farben gehalten. Dort dominierte helles Holz. Natürlich war denkbar, dass er sich mit Lea woanders getroffen hatte, in einem Hotel, der Wohnung eines Bekannten. Aber auch, als ich nachfragte, blieb sie dabei, der Mann auf dem Video sei nicht ihr Mann.
»Ich …« Sie räusperte sich. Lächelte. »Ich kenne ja nun mal seine Art, wenn Sie verstehen, was ich meine. Manchmal hätte ich mir gewünscht, er hätte diese Energie und Kraft gehabt wie der Widerling da …«
Mit einer ruckartigen Bewegung reichte sie mir den Laptop zurück, begleitete mich zur Tür, wünschte mir einen angenehmen Tag. »Sie würden mir wirklich helfen, wenn Sie mir jemanden nennen könnten, der diese Wohnung leer macht«, rief sie mir nach, als ich schon an der Haustür war.
Irgendwo im Haus klimperte jemand auf einem Klavier. Dazwischen bellte hin und wieder ein großer Hund, als könnte er das unmusikalische Gestümper nicht länger ertragen.
24
Der Neckar glitzerte silbergrau im Vormittagslicht, als ich die Theodor-Heuss-Brücke überquerte. Die tief stehende Wintersonne blendete mich ein wenig. Und in meinem Kopf kreisten die unappetitlichen Szenen, die ich eben zum dritten oder vierten Mal gesehen hatte.
Da war etwas gewesen, wurde mir bewusst, als ich in die Alte Eppelheimer Straße einbog. Eine Winzigkeit, nur ganz kurz im Hintergrund aufgetaucht, hatte sich in meinem Kopf festgehakt. Ich hatte etwas wiedererkannt. Etwas, was vor langer Zeit einmal Bedeutung für mich gehabt hatte. Aber sosehr ich auch grübelte, ich kam nicht darauf, was es war. Ob es mir passte oder nicht, ich musste mir das Zeug noch ein weiteres Mal ansehen. Dieses Mal würde ich jedoch nicht auf die nackten, schwitzenden Körper achten, in der Hoffnung, für Sekundenbruchteile ein Gesicht zu sehen, sondern auf das, was unscharf im Hintergrund war.
An meinem Schreibtisch zurück, startete ich das Video noch einmal. Musste dreimal wieder von vorn beginnen, bis ich den entscheidenden Moment gefunden hatte. Das Bild, das mein Unterbewusstsein in Aufruhr versetzt hatte.
In einem großen rechteckigen Spiegel mit barockem Rahmen an der Wand konnte ich für den Bruchteil einer Sekunde die Einrichtung an der gegenüberliegenden Wand sehen. Am Boden stand dort eine hohe, zylinderförmige Glasvase, in der blühende Zweige steckten, darüber großformatige moderne Kunst. Daneben ein niedriges, nussbaumfarbenes Sideboard. Und darauf – eine alte Stereoanlage.
Der unerfüllte Traum meiner Jugend.
»Eine Traumton-Anlage«, sagte ich leise zu mir selbst.
Die Traumton GmbH hatte Anfang der Siebzigerjahre geblüht. In Zeiten, als über der Frage, ob man Langspielplatten nass oder trocken abspielen sollte, Freundschaften zerbrachen und manche Menschen für ihre Hi-Fi-Anlage mehr Geld ausgaben als andere für ihr Auto. Gegründet hatte die Firma ein musikverrückter Physiker zusammen mit einem Elektronikfanatiker. Von Anfang an hatte man das höchste Preissegment angepeilt und auch getroffen. Das Einsteigermodell war für zwölftausend Mark zu haben gewesen, und nach oben hin gab es fast keine Grenze.
Legendär und bis heute unübertroffen waren die pyramidenförmigen Boxen. Menschen, die sich eine Anlage von Traumton leisteten, räumten dafür ein Zimmer leer, behängten die Wände mit schweren Vorhängen und stellten einen bequemen Sessel exakt an die optimale Stelle, nämlich an die Spitze des gleichschenkligen Dreiecks, dessen Seitenlänge dem Abstand der Lautsprecherboxen entsprach.
In dem Jahr, als ich die Nacht mit Doro verbrachte, hatte ich achttausend Mark angespart und ernsthaft überlegt, ob ich einen Kredit aufnehmen sollte, um den fehlenden Betrag zu finanzieren. Aber dann war meine Beziehung zu Vera enger geworden, ein Jahr später waren Sarah und Louise unterwegs gewesen und andere Dinge wichtiger als kristallklarer und naturgetreuer Raumklang.
Heute war die Firma längst Geschichte. Selbst Google fiel so gut wie nichts dazu ein. Bei eBay bot jemand eine gebrauchte Vierhundert-Watt-Anlage zum Liebhaberpreis von fünfundzwanzigtausend Euro an. Zuzüglich Frachtkosten und natürlich nur in liebevolle Hände. Bisher hatte niemand geboten.
Im Lauf der folgenden Stunde fand ich heraus, dass die Traumton
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