Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
glitzernden Wellen bildeten sich einzelne Schaumkronen.
Uff,
dachte sie,
so haben wir nicht gewettet,
während sie gegen den Wind anschwamm. Als sie zurück zum Strand sah, erkannte sie ihn nur noch als helles, schmales Band, das ab und zu zwischen dem Blaugrau der Wogen hervorblitzte. Wenn das so weiterginge, würde das wohl nichts werden mit dem anderen Ufer, obwohl sie nahezu die Hälfte geschafft hatte. Das Ziehen in ihren Schultern wurde heißer, und das Wasser schien sich mehr und mehr in eine klebrige Substanz zu verwandeln. Okay. Also heute nur bis hierher.
Als Viviane wendete, war eine weiße Wand vor ihr. Dann klatschte ihr etwas hart ins Gesicht. Schwärze. Ihr Kopf schien zu platzen. Um sie herum Summen und das Rauschen von etwas, was über sie hinwegglitt. Als sie die Augen wieder öffnete, war alles grün und unscharf, und sie begriff, dass sie unter Wasser war. Sie wirbelte herum und versuchte, sich zu orientieren. Da. Licht. Als sie gurgelnd und nach Luft schnappend wieder an die Oberfläche gelangte, fiel ihr Blick auf das Boot. Sein Segel flatterte im Wind. Es kam direkt auf sie zu. Etwas brummte wie ein Rasenmäher. Die Jolle schien über einen Außenborder zu verfügen.
»Mann!«, schrie sie keuchend und ruderte mit Armen und Beinen, um sich über Wasser zu halten. Der Idiot hatte sie tatsächlich umgefahren. »Bist du bescheuert, du Spinner …« Eine Welle platschte ihr ins Gesicht, und der Rest ging in Husten über. Viviane wischte sich das Wasser aus den Augen. Da war etwas Klebriges auf ihrer brennenden rechten Gesichtshälfte. Blut sickerte aus einer Platzwunde über ihrer Augenbraue. Als Viviane wieder aufsah, war es fast zu spät. Sie hatte Zeit für einen letzten Atemzug und tauchte instinktiv unter. Ein scharfer Schmerz fuhr ihr diagonal über den Rücken, als der Kiel ihr die Haut zerschnitt, und ihr lautloser Schrei verhallte in Hunderten Luftblasen, die im Wirbel der Schraube des Außenborders tanzten, der sich nur wenige Zentimeter über ihrem Kopf durch das Wasser pflügte.
Will der mich umbringen? Er will mich umbringen. Hier und jetzt.
Adrenalin und kalte Furcht schossen so heftig durch Vivianes Adern, dass ihr ganzer Körper unkontrolliert zuckte und zitterte. Ihre Atemwege brannten wie Feuer. Sie musste raus hier. Weg. Schreien. Was auch immer.
Nur die Ruhe. Ruhig.
Mit drei kräftigen Schwimmbewegungen schoss Viviane aus dem Wasser und pumpte Sauerstoff in ihre schmerzenden Lungen.
»Hilfe!«, kreischte sie mit sich überschlagender Stimme gegen den pfeifenden Wind an. »Hilfe!« Das Schreien kostete Luft. Zu viel Luft. Weit und breit war kein anderes Boot zu sehen. Vor ihr nur das schmale Band des Strandes.
Vielleicht dreihundert Meter. Vielleicht weniger. Schaffst du das?
Viviane blickte nach hinten und sah, wie das Boot etwa zwanzig Meter hinter ihr wendete. Es war eine von den Jollen, die im Yachtclub gemietet werden konnten. Sie konnte nicht erkennen, wer es steuerte – das Segel versteckte ihn. Schließlich ging er wieder auf Kurs, und Viviane blieb keine Zeit mehr für weitere Beobachtungen. Der Typ hatte es wirklich auf sie abgesehen. Sie musste zum Strand zurück. Wie auch immer. Sie schwamm los und legte alle Kraft in die Bewegungen. Das Herz tobte wie ein wildes Tier in ihrem Brustkorb. Bei jedem Atemzug wollten ihre Lungen platzen. Vor ihren Augen tanzten weiße Sterne.
Du hyperventilierst.
Angst. Panik, es nicht schaffen zu können. Kalte Furcht und Entsetzen, dass sie von einem Moment auf den nächsten um ihr Leben kämpfen musste. Dass jemand sie umbringen wollte. Einfach so. Das Grauen, entkräftet dem kalten Grund entgegenzusinken. Sie. Hier, in dem harmlosen Stausee ihrer Heimatstadt, in dem sie als kleines Mädchen das Schwimmen gelernt hatte, in dem sie als Teenie nach nächtlichen Gelagen am Lagerfeuer betrunken, bekifft und nackt …
Ruhig. Immer auf die Atmung achten, durchziehen und kein Wasser schlucken.
Viviane riss sich zusammen und schwamm so schnell sie konnte. Sie hatte zum Freistil gewechselt, wenngleich ihr klar war, dass sie das nicht lange durchhalten würde. Aber sie musste vorwärtskommen. Die Arme bohrten sich durch das Wasser. Zwischen den Wellen sah sie beim Luftholen abwechselnd nach vorne und hinten, um zu überprüfen, ob sich der Strand näherte und ob sie sich von dem Boot entfernte. Noch immer war der Strand nicht mehr als ein schmales Band. Dafür wurde das Röhren des Außenborders hinter ihr lauter. Hektisch
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