Alexandra von Stietencron Bd. 1 - Purpurdrache
teilte und die Enden nicht schief nach unten hingen.
Alex hatte vergeblich versucht, Professor Engberts im Luisenstift zu erreichen. Es lag auf der Hand, dass überprüft werden musste, ob einer seiner Patienten als potenzieller Täter in Frage kam, zumal einer von ihnen erst vor wenigen Monaten aus der Forensik entlassen worden war: Jürgen Roth, der vor einigen Jahren in einem Kindergarten bei Lemfeld Geiseln genommen hatte. Na ja – würde sie eben morgen mit dem Klinikleiter sprechen.
Heißester Kandidat aus Marcus’ Sicht war natürlich Sandra Lukoschiks Freund Roman König. Seine erste Reaktion sowie die Tatsache, dass er mutmaßlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit seinen Studenten den Kornkreis erbaut hatte, in dem die Leiche zerstückelt aufgefunden worden war, sprachen gegen ihn. Dazu kam, dass nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen Sandra Lukoschik an dem Abend ihrer Ermordung eine Verabredung gehabt hatte. Eifersucht als Motiv war nicht auszuschließen, und gegenwärtig ging es in erster Linie darum, festzustellen, mit wem die Frau sich getroffen hatte, worum sich Reineking kümmerte. Alex war sich sicher, dass Marcus sich den Ingenieur noch einmal vornehmen würde.
Nachdem Marcus wiederaufgetaucht war, hatte sich herausgestellt, dass er nicht in der Pathologie, sondern in mehreren Besprechungen gewesen war. Später hatte er das Handy des Opfers auslesen und sich die gespeicherten Nummern sowie sämtliche Anrufe und SMS -Protokolle vorlegen lassen. Bevor er die »Kaserne« wieder verließ, hatte er zudem VICLAS gefüttert, aber außer einem Haufen ungewöhnlicher, auf den ersten Blick unzusammenhängender Mordfälle nichts zutage gefördert, das ins Bild passte. Wahrscheinlich stellte er schlicht und ergreifend die falschen Fragen. Aber darauf würde Alex ihn noch früh genug hinweisen. Marcus schien außer dem beruflichen auch ein sehr privates Interesse an dem Fall zu haben. Kein Wunder, hatte er doch Sandra Lukoschik persönlich gekannt, weil sie die Ex seines Freundes war.
Alex trank noch einen Schluck Wein und verrieb einen Tropfen gedankenverloren auf der Unterlippe. Während Schneider mit der Spurensicherung die Wohnung von Sandra Lukoschik auf den Kopf gestellt hatte, hatte sie herauszufinden versucht, woher die Laborratte stammen könnte. Schließlich war sie auf ein Institut gestoßen, das für die lebensmitteltechnologische und pharmakologische Abteilung der Fachhochschule gelegentlich welche lieferte. Ein weiterer Baustein, der zu Roman König führte.
Marcus hatte sie gelobt, und sie hatte sich an seinem herzlichen Lächeln gefreut. Da war etwas in seinem Gesicht, das sie an Benjamin erinnerte. Irgendein Zug um seinen Mund. Etwas in der Art, zu sprechen und die Sätze zu betonen. Und da war etwas, was sie miteinander verband: Sie hatte ihre erste große Liebe durch einen Mord verloren, den Tod von Marcus’ Frau hatte ebenfalls jemand anderes verschuldet, wie sie mittlerweile erfahren hatte. Ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Marcus hatte die komplette Stadt auf den Kopf gestellt – aber der Schuldige war bis heute nicht gefunden worden. Alex wusste, welche Bürde er mit sich herumtrug. Auf ihren Schultern lastete die gleiche – die Qual der Ungewissheit.
Ein elektronischer Klingelton riss sie aus den Gedanken. Auch Hannibal schreckte hoch, aber nur, um sich sofort wieder hinzulegen. Alex stand auf und lief nackt ins Wohnzimmer. Das Telefon lag auf dem Schreibtisch neben dem PC zwischen säuberlich gestapelten Computerausdrucken auf dem mit gelben Post-it-Zetteln gepflasterten Lehrbuch »Täterprofile bei Gewaltverbrechen«. Wahrscheinlich Julia. Sie sah auf die Uhr. Eigentlich zu spät für einen Anruf ihrer Schwester, die heute Nachmittag schon eine Mail geschickt hatte. Musste sie so dringend wissen, ob Alex am Wochenende nach Düsseldorf kommen würde? Es war völlig klar, wie ein solcher »gemütlicher Grillabend« verlaufen würde: Dad und Jules bekloppter Mann würden mit über die Schultern geworfenen Ralph-Lauren-Pullovern dasitzen und über Autos und das Geschäft reden. Mama wäre bereits blau, was alle so lange geflissentlich ignorieren würden, bis sie über die eigenen Füße stolpern und hinfallen würde wie im vergangenen Jahr, als sie sich bei einer solchen Aktion das Fußgelenk gebrochen hatte und drei Tage im Krankenhaus bleiben musste. Alex hatte es damals schon längst aufgegeben, ihre Trinkerei zu kommentieren und ihr zu sagen, wie peinlich sie dann
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