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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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bebende Alt von Alonzos Mutter. »Mir geht das Herz über«, sagte sie, »wenn ich alle diese Menschen sehe, die sich zu Ehren meines Sohns versammelt haben.«
    Nun könnte man denken, ich hätte Schuldgefühle gehabt. Weil ihr Sohn in diesem Augenblick das Letzte war, was ich im Sinn hatte. Ganz unrecht hätten Sie damit nicht. Aber jetzt kommt's: Man kann sich bei einer Beerdigung genauso gut näherkommen wie auf einer Hochzeit. Eher noch besser. Irgendjemand ist immer trostbedürftig.
    Und Alonzo hätte besser als jeder andere verstanden, wie problematisch es war, um ihn zu trauern. Er hatte keine Kinder hinterlassen. Er hatte nie um Gefühle gebuhlt, er hatte überhaupt nie um etwas oder jemanden gebuhlt. Trotzdem verstand er mich. Komm einfach wieder, wenn du fertig bist , konnte ich ihn sagen hö
ren. Im Katalog von Maggs & Quaritch ist ein Brief, den ich dir zeigen will. Geschrieben an den Laird of Craighall …
    Und so glaubte ich, nach Ende des Gottesdienstes mein Ziel mit seinem Segen weiter verfolgen zu dürfen. Doch als ich aufstand, rief mir eine andere Frauenstimme nach.
    »Henry!«
    Lily Pentzler. Kurzleibig und langatmig. Körperhaltung wie ein Profi-Ringer, graue Haarbüschel über Johannisbrotaugen, in jeder Hand einen Stapel Cocktailservietten. Pose gequälter Barmherzigkeit, nicht speziell für diesen Anlass.
    »Brauchst du Hilfe?«, fragte ich.
    »Ob ich Hilfe brauche?«
    Lily war Alonzos Amanuensis. Ich verwende dieses Wort, weil es so auf ihren Visitenkarten stand. »Das heißt, ich sammele die Abfälle des Meisters auf«, hatte sie einmal erklärt. Und genau das tat sie auch jetzt.
    »Die Sicherheitsleute haben uns fast eine Stunde warten lassen«, berichtete sie. »Der Blumenhändler hat keine Nelken geschickt, sondern Lilien. Alonzo hat Lilien gehasst. Das Büffet ist eben erst eingetroffen. Eben. Erst. Eingetroffen. Jeder, der sich etwas Endgültiges antut, sollte verpflichtet werden, sich vorher um alles zu kümmern – und zwar nicht per Gesetz, Henry, sondern per göttlichem Auftrag, etwa so: ›Herhören! Bevor du das tust, organisierst du erst mal deinen Gedenkgottesdienst, kapiert? Kauf den Kranz und sieh zu, dass die Bar bestückt ist. Lass das Scheißbüffet aufbauen, und dann bring dich um!‹«
    »Verstehe, worauf du hinauswillst.«
    »Das wird …« Die Serviettenstapel gerieten ins Schwanken. »Das wird zur Folge haben, dass der Selbstmord, wie wir ihn kennen, aus der Mode kommt.«
    »Brauchst du Hilfe?«, fragte ich noch einmal.
    Sie sah mich an.
    »Du hast uns gefehlt, Henry. Warum hast du dich so lange nicht bei uns blicken lassen?«
    »Ah, na ja. Viel zu tun. Der Lehrauftrag. Das Freiberuflerdasein. Dies und das …«
    »Immer was Neues«, sagte sie, ohne mich aus den Augen zu lassen.
    »Genau.«
    »Komm doch trotzdem nachher vorbei. Um fünf gibt's einen Leichenschmaus. Wir haben die ganze oberste Etage des Pour House für uns, und Bridget singt was rührselig Altmodisches. Last Rose of Summer , glaube ich. Wenn ich's mir recht überlege, erspar dir das lieber.« Sie lächelte halbherzig, drehte sich langsam um und kämpfte sich zum Büffet vor, das fast so hoch war wie sie selbst.
    Gerade mal eine Minute war über dem Gespräch vergangen, aber das reichte. Die Frau in Scharlachrot war spurlos verschwunden. Ich streifte durch den großen Saal, sah nur mit halbem Auge nach den Armbrustbolzen und dem digitalisierten First Folio auf dem Touchscreen, auf dem die Seiten wie von Zauberhand umgeblättert wurden, und musste meine Niederlage erkennen. Bis an meinem östlichen Horizont, der Morgendämmerung gleich, ein langer bleicher Arm erschien. Der gegen die schwere Eichentür stieß.
    Sie wollte gehen. So leise wie sie gekommen war.
    Und wieder schritt das Schicksal ein. Diesmal nicht in Gestalt von Lily Pentzler, sondern in der von Alonzos achtundneunzigjährigem Großvater, der mich für seinen Großneffen hielt und sich das nicht ausreden ließ. Seinem Seemannsgriff zu entkommen erforderte die Intervention des tatsächlichen Großneffen, eines Vertreters für Haustierversicherungen aus Centreville, Virginia. Mit drei großen Schritten war ich in der Eingangshalle – ich stemmte das Portal auf und stand da in der grellen Hitze.
    Sie war weg.
    Ich war ganz allein im Gluthauch des August auf diesen Marmorstufen. Schweiß rann mir in den Kragen, ein Gestank wie von brennenden Autoreifen stieg um mich auf. Magnolien wuchsen dort, Kreppmyrten und nicht viel mehr. Schwer zu

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