Algebra der Nacht
Einführung in die Schule der Nacht verdanke ich Alonzo Wax' Ellbogen.
Er traf mich im Winter unseres ersten Studienjahrs, etwa in der hundertvierzigsten Minute einer Studentenaufführung von Verlorene Liebesmüh , der Alonzo und ich aus verschiedenen Gründen beiwohnten. Er testete seine Theorie, wonach sich der amerikanische Dialekt für Shakespeares Englisch besser eignete. (»Die Elisabethaner haben ihre Konsonanten geliebt, Henry.«) Mich interessierte die Darstellerin der Prinzessin von Frankreich. Einmal hatte sie mich lächelnd nach meinen Chaucer-Notizen gefragt, und in diesem Lächeln lag eine solche Verheißung, dass ich dem König von Navarra einfach nicht mehr zuhörte, als er seine Liebe zu der Prinzessin bekannte. Ich wartete nur darauf, dass die Prinzessin wieder auftrat.
Aus dem Grund verpasste ich den entscheidenden Moment. Und hätte nie erfahren, was ich verpasst hatte, wäre nicht Alonzos Ellbogen gewesen, der genau die Stelle zwischen der vierten und fünften Rippe traf, an der ich so empfindlich war.
»Was soll das?«, japste ich empört.
Eine Pause von zwei, drei Sekunden trat ein, in der meine ganze Nichtsnutzigkeit sich sammelte und gen Himmel stieg.
»Schon gut«, murmelte er.
Den Rest der Aufführung hindurch schwieg er, und auch danach noch einige Zeit. Aber später am Abend gab er mir bei ein paar Gimlets im Annex eine zweite Chance. Er spazierte mit
den Fingern auf der klebrigen Tischplatte herum und stellte so genau den Augenblick in der dritten Szene des vierten Akts nach, wo die Mannen des Königs, die zuvor der Gesellschaft von Frauen abgeschworen hatten, sich nun des Meineids schuldig bekennen müssen. Sie sind verliebt.
Nachdem sie das gebeichtet haben, können sie ungezwungen Kritik am Geschmack der anderen üben. Und das tun sie. Ausgiebig. Insbesondere der König neckt seinen Kumpel Biron ob dessen Sehnsucht nach der dunkelhaarigen Rosaline. Schwarz wie Ebenholz nennt der König sie. Ist Ebenholz ihr gleich? O Holz der Wonne! Worauf der König erwidert – und hier muss man sich vorstellen, wie jeder einzelne Bierkrug im Annex unter Alonzos Donnerworten ins Schwingen gerät –:
Sophisterei! Schwarz ist Livrei der Hölle,
Des Kerkers Farbe und der SCHUL … DER … NACHT …
Auslassungen von ihm. Versalien dito.
»Na und?« sagte ich. »Das ist eine gängige Metapher. In den Sonetten wimmelt es davon. Die dunkle Dame – von Sonn' ist nichts in meines Liebchens Blicken …«
Billiger Gin machte Alonzo immer großmütig. Weshalb er bloß an seiner Serviette nestelte.
»Ich kann dir nicht vorwerfen, Henry, dass dir das entgangen ist. Dem Publikum Anno 1594 oder 95 wird es auch entgangen sein. Nur eine Handvoll Zuschauer dürfte mitbekommen haben, wovon da die Rede war. Zumal in diesem Augenblick, Henry!« Er lächelte trübsinnig. »Ich könnte mir gut vorstellen, dass ihr Ächzen bis zu Shakespeare persönlich gedrungen ist. Der hinter den Kulissen wartete.«
Alonzo fuchtelte so heftig in der Luft herum, dass ich ganz nervös wurde.
»Warum waren sie so schockiert?«, fragte ich.
»Weil dieser kleine Emporkömmling aus dem Norden, dieser Sohn eines Stratforder Handschuhmachers, sich über einige der größten Männer lustig machte, die England je gekannt hatte.
Nein, wirklich. Walter Ralegh . Christopher Marlowe . Ein gutes halbes Dutzend andere. Verlorene Liebesmüh ist nichts anderes als eine Satire auf diese großen Männer und ihr anmaßendes Getue. Mit diesem einen Ausdruck – Schule der Nacht – hat Shakespeare sie buchstäblich ans Tageslicht gezerrt und vor aller Augen bloßgestellt.«
»Und das beweist du wie?«
»Ach Gott, lies halt Bradbrook. Lies Tannenbaum. Lies Shakespeares gottverdammte Stücke, wenn du mir nicht glaubst. Der König von Navarra und sein Hof. Der Herzog von Arden und sein Hof. Prospero. Hamlet! Wieder und wieder ist Shakespeare auf dieses Thema zurückgekommen. Gelehrte – Männer von echter Originalität , Henry –, die in Abgeschiedenheit von der Welt arbeiten. Verbannt wegen ihrer Gedanken. Und sie alle sind nur Varianten der ursprünglichen Schule Raleghs.«
Hier zeigte sich einer der Unterschiede zwischen uns. Alkohol machte Alonzo gesprächiger. Je billiger das Gesöff, desto lauter wurde er.
»Ich versteh's immer noch nicht«, sagte ich. »Was war denn diese Schule?«
»Die geheimste, die brillanteste – Gott, die kühnste aller elisabethanischen Gesellschaften halt.«
Er senkte den Kopf und beäugte
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