Algebra der Nacht
absichtlich klein. Soll heißen, ich erzählte, wie ich Alonzo Wax kennengelernt hatte.
Es war der erste Tag unseres ersten Semesters und Alonzo war der allererste Student, der mir begegnete, und da ich es nicht besser wusste, dachte ich, alle Studenten seien wie er. (»Heute bedaure ich, dass dem nicht so war«, sagte ich.) Als Erstes offerierte Alonzo mir einen Schluck Pimm's, den er in einem kleinen Kristallgefäß in seiner Gesäßtasche bei sich trug. Und als er hörte, dass ich Englisch als Hauptfach gewählt hatte, wollte er meine Meinung zum Wintermärchen hören. Ich bekam etwa drei Sätze heraus, da unterbrach er mich schon und hielt mir meine unbedarftheit vor. (»Genau dieses Wort hat er benutzt: unbedarft.«) Und als ich sagte, ich hätte Chapman nicht gelesen – nun, da dachte ich, er würde mich stehenlassen und nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollen. Stattdessen lud er mich zum Essen ein.
»Es war ein richtiges Abendessen«, sagte ich. »Ein Menü. Mensa-Essen, erklärte er mir, sei bekanntermaßen krebserregend. ›Na
türlich hat man diese Erkenntnis unterdrückt‹, sagte er. ›Aber die Befunde sind eindeutig. Dieser Fraß ist tödlich.‹«
Das Wort – tödlich – war mir entschlüpft und schwebte nun in der klimatisierten Luft. In dem Augenblick wünschte ich mir wirklich, ich könnte die Uhr auf die elisabethanischen Zeiten zurückdrehen, in denen dieser Saal ein Ort der Lustbarkeiten und der Zerstreuung gewesen wäre. Maskenspiele, Theater und Tanz. Binsen auf dem Boden, frei umherlaufende Hunde, ein alles durchdringender Geruch nach Ackerbau und Viehzucht. Meine Stimme ununterscheidbar im Gewirr der vielen anderen.
Alonzo, fuhr ich hastig fort, bezahlte unsere Mahlzeit, wie er es für gewöhnlich tat. Er gab ein Trinkgeld, fast so hoch wie die Rechnung. Und er räumte ein, meine Ansichten zum Wintermärchen seien doch nicht so dumm, wie er anfangs gedacht habe. Chapman sollte ich aber trotzdem noch lesen. »›Wenn du es zu etwas bringen willst‹, sagte er, ›musst du dich auf einen netten minderen Poeten kaprizieren.‹« Ich schob meine unbenutzten Karteikarten zusammen und schielte auf die Schlusszeile. »Alonzos Selbstsicherheit kam mir gewaltig vor. Ich war bloß ein Junge aus der Vorstadt, und er, so alt wie ich, trat mit dem Gebaren eines Professors auf. Und die richtigen Professoren, die waren von ihm nicht weniger eingeschüchtert als ich, und das mit Recht, denn er war …«
Er war was? Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte, denn faktisch beendete sie den Satz für mich. Eigentlich begann sie einen ganz anderen. Einfach, indem sie in den Saal spaziert kam. Mindestens vierzig Minuten zu spät. Bis zum heutigen Tag bin ich mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt bemerkt hätte, wenn sie dem Anlass entsprechend gekleidet gewesen wäre. Wie wir anderen auch, meine ich, in schwarzes Tuch und mit Trauerflor. Sie trug ein tailliertes altmodisches Kattunkleid mit enganliegendem Oberteil und weit ausschwingendem Glockenrock. Es war scharlachrot! Sie bewegte sich wie eine Frau, die ständig solche Kleider trägt. Niemand im Saal wirkte so ungezwungen wie sie.
Keiner sprach sie an. Wahrscheinlich warteten wir alle nur dar
auf, dass sie ihren Irrtum selbst bemerkte. Oh, die Hochzeit ist auf der anderen Straßenseite! In der Kirche der Kongregationalisten! Aber sie ließ nicht erkennen, dass sie am falschen Ort gelandet war. Sie setzte sich ans Ende der dritten Reihe und wandte ihre Aufmerksamkeit gelassen dem Redner zu.
Und der war ich. Das hatte ich für einen Moment vergessen.
»Alonzo«, sagte ich, »war ein … ein großer Sammler , das wissen wir alle. Deswegen sind so viele von uns hier , oder? Aber für mich war nichts in seiner Sammlung … so einzigartig wie er selbst. Und …« Mach Schluss. Schluss . »Und daran werde ich mich immer erinnern.«
Wer sprach nach mir? Ich kann es nicht sagen. Kaum hatte ich wieder Platz genommen, versuchte ich, mir einen genaueren Eindruck zu verschaffen. Gar nicht so einfach, weil sie zwei Reihen hinter mir saß und seitlich etwas in nördlicher Richtung versetzt, was bedeutete, dass ich mich in regelmäßigen Abständen umdrehen musste. Irgendwie erhaschte ich zwischen Köpfen und Hüten ein paar Einzelheiten. Eine Fülle dunklen Haars. Ein weicher Arm, lässig über die Stuhllehne gebreitet. Und das Verführerischste: ein Schlüsselbein, das sich keck von ihrem schlanken Hals absetzte.
Und dann ertönte vom Podium der
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