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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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mich, als wäre ich die weiße Kugel auf dem Billardtisch.
    »Bist du bereit, Henry?«
    Ohne weiteres Vorgeplänkel versetzte er mich zurück ins Jahr 1592.
    Walter Ralegh, der größte Höfling seiner Zeit, hat den Zorn der Königin auf sich gezogen, weil er heimlich eine ihrer Hofdamen geheiratet hat. Auf sein Gut in Dorset verbannt, verlegt er sich auf einen für ihn typischen ehrgeizigen Zeitvertreib. Er will die größten Geister seiner Generation um sich sammeln und ihnen die Freiheit verschaffen, nach der sie ihr Leben lang gestrebt haben. Die Freiheit, offen ihre Meinung zu sagen.
    »Was ihm vorschwebte, war – Gott, wie sagt Shakespeare in dem Stück, das wir eben gesehen haben? Eine klein' Akademie … «
    » Der Kunst stiller Beschaulichkeit ergeben. «
    »Ganz genau.«
    Wer konnte eine solche Einladung schon ablehnen? Nicht Marlowe.
    Nicht Henry Percy, der »Graf Hexenmeister« von Northumberland.
    Nicht George Chapman und seine Dichterkollegen Matthew Roydon und William Warner. Einer nach dem anderen strömten sie nach Dorset.
    Den Angehörigen der Schule war von Anfang an klar, in welche Gefahr sie sich begaben. Sie trafen sich ausschließlich im Geheimen, ausschließlich bei Nacht. Soweit wir wissen, fertigten sie keine Mitschriften ihrer Gespräche, keine Aufzeichnungen an. Sie publizierten ihre Erkenntnisse nicht. Sie hatten keinen Namen, bis Shakespeare ihnen einen gab.
    »Und doch  …« Alonzos Zeigefinger bohrte sich in den Tisch wie eine Ahle. »Waren sie eine der größten Bedrohungen für das elisabethanische Establishment.«
    »Warum?«
    »Weil sie über Dinge sprachen, über die niemand sprechen konnte. Sie stellten die Göttlichkeit Jesu in Frage. Sie bezweifelten die Existenz Gottes. Sie betrieben dunkle Künste. Alchemie, Astrologie, heidnische Rituale … satanische  … nichts war tabu, Henry. Sie wagten es, sich eine Welt ohne Glauben vorzustellen, ohne Monarchie. Mit dem menschlichen Geist als alleiniger Richtschnur. Sie waren das lautlose kleine Messer im Herzen der elisabethanischen Orthodoxie.« Seine Augen funkelten; seine Stimme wurde dunkler. »Und sie alle haben teuer dafür bezahlt, Henry.«
    Mit sichtlichem Genuss skizzierte er ihr jeweiliges Ende. Marlowe: in einer Kneipe ermordet. (»Wegen einer offenen Rechnung? Das kann ich mir nicht vorstellen, Henry.«) Ralegh: hingerichtet. Warner: unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen. Der Graf Hexenmeister: 17 Jahre im Tower eingesperrt. Roydon: in äußerster Armut.
    »Und als Einziger noch übrig«, sagte ich halb benommen, »war schließlich der Außenseiter Shakespeare.«
    Zum ersten Mal in unserer Bekanntschaft meinte ich in Alonzos Augen ein Gefühl der Verbundenheit aufscheinen zu sehen. 
    »Du sagst es! Das ist die schönste und die bitterste Ironie dabei. Der Schauspieler vom Lande, der über die Mittelschule nicht hinausgekommen ist, der Bursche, der in Raleghs Schule nicht aufgenommen worden wäre, selbst wenn er gewollt hätte (und vermutlich wollte er), war der Einzige, der sämtliche Regierungswechsel überdauerte, von Elisabeth der Ersten bis zu Jakob dem Ersten. Die Schule der Nacht musste ihre Tore schließen, und Shakespeare hat weitergelebt.«
    »Seine eigene kleine Akademie«, flüsterte ich.
    Langsam sank Alonzo auf seinem Stuhl zurück.
    »So ist es«, sagte er, und ein zweigeteilter Strahl Dunhill-Rauch entströmte seiner Nase. »Die Schule der Nacht weicht Shakespeare. Der Schule des Tags.«
    Es war schätzungsweise zwei Uhr morgens, als wir endlich unsere Rechnung beglichen. Alonzo zahlte, wie üblich, und ließ als Trinkgeld einen kleinen Stapel Scheine liegen … Gott weiß, wie viele, aber der Kellner lächelte.
    »Henry«, sagte Alonzo. »Ich glaub, ich bin beduselt.«
    Nun ist »beduselt« an sich schon ein lustiges Wort. Aber aus dem Munde von Alonzo Wax klang es ganz besonders lustig. Er verstand zwar genauso wenig wie ich, warum, stimmte mir aber letztlich zu.
    »Beduselt!«, kreischte er. » Beee-duuu-selt! «
    Als wir auf die Tür zusteuerten, lächelte der Kellner nicht mehr. Im Gänsemarsch tapsten wir an der Bordsteinkante entlang und rannten plötzlich wie auf Kommando mit rudernden Armen über die Straße. Vor dem Eingang von Nassau Hall blieben wir stehen und sahen zu dem weißen Turm hinauf, der vorm schwärzlichen Purpur der Nacht besonders furchterregend wirkte. Von Süden her zogen blaue Wolken heran, und Stille lag auf allen Flügelfenstern, Bögen und

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