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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louis Bayard
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»solltest du dich nicht unterschätzen. Alonzo hat das nie getan, das weißt du. Er hat sich immer gefragt, was du dazu sagen würdest, wenn ihm wieder ein Quarto oder ein Brief in den Schoß fiel. Oh, das würde Henry gefallen. Ich kann's kaum erwarten, das Henry zu zeigen. Er hatte großen Respekt vor dir.«
    Da musste ich erst einmal überlegen: Zeugte es von Respekt, jemanden anzurufen, kurz bevor man sich umbrachte? War das wirklich eine größere Ehre, als es auf den ersten Blick schien?
    Ich konnte mich an diesen Morgen recht gut erinnern. Der zwölfte Mai: immer mal wieder ein Regenschauer, starker Pollenflug. Ich hatte im Innenhof des Peregrine Espresso, südlich des Eastern Market, gesessen, vor mir eine Tasse Finca Nueva Armenia zu 2,20 Dollar, ein Laptop und ein Packen liniiertes Papier. Schüleraufsätze. Eine Ganztagsschule in Herndon, Virginia, zahlte mir dreihundert Dollar dafür, dass ich den Juror bei einem Schreibwettbewerb machte. Das Thema lautete: »Wow«. Eigentlich war ich froh über den Auftrag, aber ich hatte noch nicht einen Text gelesen – die Aussicht auf die Konfrontation mit so viel Ernst war bedrückend – und den größten Teil des Vormittags damit verbracht, eine Anzeige für Craigslist zu formulieren. Meine dritte in diesem Jahr.
    M, weiß, geschieden, 44, gutaussehend, Akademiker, sucht Spaß/Gesellschaft mit Aussicht auf langfristige …
    Ab da wurde es jedes Mal heikel. Leseratte … mitternächtliche Telefonate ein Muss . . Kinder nicht ausgeschlossen … die Peinlichkeit
nahm mit jeder Zeile zu, bis ich am Ende ins komplett Sachliche auswich. Sporadisch beschäftigt … ein Hauch von Schamgefühl … geplagt von der Erinnerung an zwei gescheiterte Ehen … vielleicht nicht geplagt genug …
    Es war mir immer noch ein Rätsel, wie still und leise sich der Misserfolg an einen heranschleichen konnte. Eben noch bist du ein junger Mann, dein Körper gelenkig, deine Spermien zahlreich, schreitest die Straße entlang und atmest Pollen ein. Und mit einem Mal bist du einer von denen, die aus Tunnicliff's Bar nach Hause schleichen. Sehr langsam , um deinen Zustand zu verschleiern, und erst an der Haustür begreifst du, dass niemand ein prüfendes Auge auf dich geworfen hat. Die Spuren, die du auf der Haut der Welt hinterlassen zu haben glaubst, sind längst wieder verweht.
    Mitten in diese Gedanken hinein begann mein Handy zu vibrieren. Und kroch über die Tischplatte auf mich zu, als wolle es auf meine Anzeige antworten.
    Das Display meldete: »Unbekannt«. So erschien Alonzo immer auf meinem Nokia. Das gefiel ihm wohl. Das Telefon beruhigte sich, zeigte dann aber den Eingang einer Nachricht an. Ich wartete trotzdem gut fünf, vielleicht gar zehn Minuten, bevor ich sie mir anhörte.
    Aus den Tiefen meiner Mailbox drang Alonzos verkrampftes Genuschel.
    » Henry. Ruf mich an. Die Schule der Nacht ist wieder zusammengetreten. «
    Wie die Wirkung beschreiben, die dieser alte Name auf mich ausübte? Da saß ich inmitten von Espressodampf und Kaffeebohnen und iPod-Gedudel, und diese Worte – die Schule der Nacht – wollten mit nichts eine Verbindung eingehen. Bis mir, um sie passend zu machen, nur die Möglichkeit blieb, die Nachricht zu löschen.
    Und in dem Augenblick sagte eine Stimme in mir: Prüfung bestanden .
    Was nicht stimmte, aber halten Sie mir zugute, dass es mir immerhin gelang, den Anruf aus meinem Kopf zu scheuchen. Und
am selben Abend rief Alonzo sich kurz nach neun ein Taxi (da ihm wie jedem Einwohner Manhattans die Vorstellung, ein eigenes Auto zu besitzen, zuwider war) und ließ sich ans Ende des MacArthur Boulevards fahren – eine Gegend in Maryland, die er mit einiger Sicherheit noch nie zuvor besucht hatte. Der Fahrer erinnerte sich später an ihn, weil Alonzo wie üblich viel zu viel Trinkgeld gegeben hatte und weil sich noch niemals ein Fahrgast so lange nach Sonnenuntergang im C & O National Historic Park hatte absetzen lassen. Das Taxi fuhr davon, und Alonzo machte sich auf die vermutlich erste Wanderung seines Lebens, die fünf Meilen weiter endete, als er die Aussichtsplattform des Washington Aqueducts erstieg und sich in den Potomac stürzte.
    Eine gute Wahl: Genau an dieser Stelle verengt sich der mit Gebirgswasser gefüllte Fluss zur Mather-Schlucht, um keine Meile später fünfundzwanzig Meter in die Tiefe zu rauschen.
    Alonzo ließ folgende Gegenstände zurück: 1. Eine Uhr von Baume & Mercier. 2. Ein Paar Korduanschuhe, Marke Testoni. 3. Ein

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