Alias XX
Verflucht. Er würde einbrechen. Nein, zu viele Menschen auf der Straße. Der Zahnarzt nebenan hatte noch geöffnet. Tom stürzte an der Sprechstundenhilfe vorbei, und nach zehn Minuten Betteln und Flehen nahm er sich einfach, was er brauchte: die Vergrößerungslinse vom Anzeigefeld des Röntgengeräts.
Jetzt zu Harriet, wo er ungestört sein würde, wo es die nötigen Werkzeuge gab und er in Ruhe vor sich hin bluten konnte. Im Dauerlauf näherte er sich den kleinen Häusern und schwang das Tor auf. Harriets Nachbarin mit dem roten Kopftuch sprach an der Tür mit einem älteren Herrn. »Guten Abend, Mr. Wall.«
»Noch nicht«, sagte er. Er klopfte an Harriets Tür, erhielt aber keine Antwort. Er drehte den Knauf – die Tür war nicht abgesperrt – und rief ihren Namen. Wieder keine Reaktion.
Er ging hinein. Er war bereits in der Küche, als er bemerkte, dass er nicht allein war. Harriet saß in dem dunklen Raum und starrte auf eine gusseiserne Pfanne, die vor ihr auf dem Tisch lag.
»Harriet?«
»Sag mir, was du von Loyalität hältst, Tom.«
Er lachte hämisch. »Ich? Gar nichts.«
»Du bist der loyalste Mensch, den ich kenne.«
»Ich bin ein Trottel.« Der nach Sondeggers Pfeife tanzte.
»Loyalität ist keine Entschuldigung für Blödheit.«
»Und Familie? Was entschuldigt die Familie?«
»Dein Vater? Was hat er getan?«
Sie antwortete nicht. Mit der Fingerspitze fuhr sie über den Rand der Pfanne.
Er legte die Vergrößerungslinse auf den Tisch und kramte in der Schublade.
»Was ist das?«, fragte sie. »Was suchst du?«
»Ein Vergrößerungsglas – für Röntgenaufnahmen. Wo hast du eine Pinzette? Oder ein scharfes Messer, ein Schälmesser.«
»Tommy … Messer sind im Block. Du hast … du bist doch nicht …«
»Nein, alles in Ordnung.« Er fand ein dünnes Ausbeinmesser, entfachte auf dem Herd einen der Gasringe und sterilisierte das Messer in der Flamme. »Ich muss dir was sagen, Harry, und es ist eigentlich keine Zeit dafür.« Er legte das Messer auf den Tisch, damit es abkühlte. »Und ich bin der Letzte, der es dir sagen sollte.«
»Geht es um meinen Vater?«
»Nein.«
Ihre grauen Augen blitzten auf, dann verschwamm ihr Blick.
»Earl. Er ist tot.«
»Ich komme gerade vom Leichenschauhaus.«
Sie wurde sehr still. »Wann?«
Er erzählte es ihr. »Brauchst du … Gibt es jemanden, den du anrufen kannst?«
»Fast zwei Wochen«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe es die ganze Zeit gewusst. Ich habe es schon an dem Tag gewusst, an dem er nicht zurückgekehrt ist. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit …«
Tom schaltete die Deckenlampe an, legte einen Stoß Geschirrhandtücher auf den Tisch und begann den Verband zu lösen. Was brauchte er noch? Nichts. Mach es schnell. Bring’ s hinter dich.
»Hast du deine Mutter angerufen?«, fragte sie. »Die Botschaft?«
»Ich bin gleich hierher.« Seine rechte Hand lag nackt auf den Geschirrtüchern, die Haut hatte sich gekräuselt, der Einschnitt war entzündet. »Tut mir leid, Harriet, ich muss …«
Erst jetzt sah sie, was er vorhatte. »Was um alles in der Welt soll das?«
»Das Letzte, was mir Sondegger gesagt hat, war, dass ich den Beweis fast schon in der Hand halte. Dann hat er
zugestochen … genau in die Naht hinein. Ich sehe es noch vor mir, wie in Zeitlupe. Ich sehe die glänzende Spitze seines Bleistifts.«
»Tom, hör auf.«
»Aber sein Bleistift hatte keine Mine, Harry. Sie war abgebrochen.« Tom nahm das Ausbeinmesser in die linke Hand und hielt die Luft an. »Er hat den Stift in den Mund genommen. Es ging so schnell, dass ich gar nicht wusste, was geschah. Verstehst du? Ich trage ihn seit Tagen mit mir rum.«
»Hör auf, Tom, bitte.«
»Willst du es machen?« Er sah ihr an, dass sie das nicht wollte. Er versuchte zu lächeln. »Du hast doch immer gern Doktor gespielt.«
Er stach mit dem Messer in die Handfläche und traf in dem vereiterten Fleisch auf etwas Hartes. Es war nicht der Mikrofilm. Die Messerschneide kratzte über Knochen. Er schloss die Augen. Seine rechte Hand war ein einziger, verkrampfter Schmerz.
Er stocherte mit dem Messer tiefer, dann spürte er, wie sich etwas verschob. Mit der Schneide hebelte er aus der blutigen Masse ein Plastikröllchen heraus.
Es kullerte vom Messer auf die blutgetränkten Geschirrtücher. Er legte das Messer weg, seine Hände waren verklebt und zitterten. Undeutlich nahm er wahr, wie Harriet sich erhob, Wasser im Ausguss einlaufen ließ und zum Tisch zurückkehrte.
Als sich
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