Alibi
eine Gehirnerschütterung hatte. Die Folgen solcher Erkrankungen zeigen sich oft viel später, sagt man. Solche Leute sind für ihre Handlungen nicht verantwortlich zu machen. Sie verlieren die Beherrschung, ohne etwas dafür zu können.»
«Mutter!», rief Flora noch einmal. «Du glaubst doch nicht, dass Ralph es getan hat?»
«Ich weiß nicht, was ich denken soll», erwiderte Mrs. Ackroyd weinerlich. «Es ist alles so aufwühlend. Was wohl mit dem Besitz geschieht, wenn Ralph für schuldig befunden wird?»
Raymond stieß heftig seinen Stuhl zurück. Major Blunt blieb still und sah sie an.
«Hören Sie», fuhr Mrs. Ackroyd hartnäckig fort, «ich muss sagen, Roger hielt ihn sehr knapp, was Geld anbetrifft – in den besten Absichten natürlich. Ich sehe, ihr seid alle gegen mich, aber ich finde es nun einmal seltsam, dass Ralph sich nicht zeigt, und ich muss sagen, ich bin glücklich, dass Floras Verlobung nicht veröffentlicht worden ist.»
«Das wird morgen geschehen», sagte Flora mit klarer Stimme.
«Flora!», rief ihre Mutter entsetzt.
Flora wandte sich an den Sekretär.
«Bitte, wollen Sie so freundlich sein, die Anzeige in der Morning Post und Times erscheinen zu lassen, Mr. Raymond?»
«Wenn Sie davon überzeugt sind, dass es klug ist, Miss Ackroyd», antwortete er ernst.
Sie wandte sich plötzlich Blunt zu. «Sie verstehen mich. Was kann ich sonst tun? Wie die Dinge liegen, muss ich zu Ralph stehen. Sehen Sie das nicht ein?»
Sie sah ihn forschend an. Er nickte nach langer Pause.
Mrs. Ackroyd erhob heftigen Einspruch, aber Flora blieb unerschütterlich. Dann sprach Raymond.
«Ich weiß Ihre Gründe zu schätzen, Miss Ackroyd. Aber glauben Sie nicht, dass Sie ein wenig übereilt handeln? Warten Sie noch ein bis zwei Tage!»
«Morgen», wiederholte Flora bestimmt. «Aller Widerspruch ist zwecklos, Mama. Wie ich auch sein mag, meinen Freunden halte ich die Treue!»
«Mr. Poirot!» Mrs. Ackroyd rief ihn weinend zu Hilfe. «Können Sie ihr nicht zureden?»
«Mademoiselle», sagte Poirot, «erlauben Sie einem alten Mann, Sie zu Ihrem Mut und zu Ihrer Überzeugungstreue zu beglückwünschen. Und missverstehen Sie es nicht, wenn ich Sie bitte – dringend bitte –, die beabsichtigte Ankündigung wenigstens um zwei Tage zu verschieben.»
Flora zögerte.
«Ich bitte Sie in Ralphs Interesse genauso wie in Ihrem eigenen, Mademoiselle. Sie blicken finster. Sie verstehen nicht, wieso das möglich ist. Aber ich versichere Ihnen, dass es sich so verhält. Sie haben den Fall in meine Hände gelegt. Sie dürfen mich jetzt nicht hindern.»
Flora überlegte einige Minuten, ehe sie antwortete. «Ich tue es ungern», sagte sie endlich, «doch ich will mich Ihrem Wunsch fügen.»
«Und nun, meine Damen und Herren», sagte Poirot schnell, «will ich dort fortfahren, wo ich unterbrochen wurde. Verstehen Sie mich richtig, ich will die Wahrheit finden. Die Wahrheit, so hässlich sie auch sein mag, erscheint demjenigen immer schön und erstrebenswert, der auszieht, sie zu suchen. Ich bin schon sehr bejahrt, vielleicht haben meine Kräfte nachgelassen.» Hier erwartete er zweifellos Widerspruch. «Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dies der letzte Fall, den ich jemals untersuchen werde. Aber Poirot beendet seine Laufbahn nicht mit einem Misserfolg. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen, ich will und ich werde die Wahrheit wissen – Ihnen allen zum Trotz.»
Herausfordernd stieß er die letzten Worte hervor, er schleuderte sie uns förmlich ins Gesicht. Ich glaube, wir wichen alle ein wenig zurück. Geoffrey Raymond ausgenommen, der heiter und gelassen blieb wie immer.
«Wie meinen Sie das – uns allen zum Trotz?», fragte er mit leicht emporgezogenen Augenbrauen.
«Aber ganz einfach, Mr. Raymond. Jeder in diesem Raum verbirgt etwas vor mir.» Er hob seine Hand, als leiser Widerspruch vernehmbar wurde. «Ja ja, ich weiß, was ich sage. Es mag etwas Unwesentliches sein, aber es ist so. Jeder von Ihnen hat etwas zu verbergen. Sagen Sie nun selbst: habe ich recht?»
Sein herausfordernder, anklagender Blick schweifte um den Tisch, und alle schlugen die Augen vor ihm nieder. Ja, ich tat es auch.
«Sie haben geantwortet», sagte Poirot mit einem eigentümlichen Lachen. Er erhob sich von seinem Stuhl. «Ich wende mich an alle. Sagen Sie mir die Wahrheit – die volle Wahrheit.»
Alle schwiegen. «Will niemand sprechen?»
Er lachte abermals.
«Sehr bedauerlich», sagte er dann und ging aus dem Zimmer.
13
A m
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