Alibi
gewesen sein. Es war noch nicht halb zehn, als ich wieder das Haus erreichte.»
«Welchen Weg ging er?»
«Genau den gleichen, den er gekommen war – den Pfad, der neben der Pförtnerwohnung in die Auffahrt mündet.»
«Und Sie, was haben Sie dann getan?»
«Ich ging in das Haus zurück. Major Blunt spazierte rauchend auf der Terrasse auf und ab, deshalb machte ich einen Umweg und ging herum an den Seiteneingang. Es war genau halb zehn.»
Poirot nickte wieder. Er notierte einiges in einem kleinen Büchlein.
«Ich denke, das wäre alles.»
«Muss ich …» Sie zögerte. «Muss ich das alles Inspektor Raglan erzählen?»
«Vielleicht wird es nötig sein. Vorläufig aber wollen wir nichts übereilen. Gehen wir langsam, ordnungsgemäß und methodisch vor. Charles Kent ist formell noch nicht wegen Mordes angeklagt. Es können noch Umstände eintreten, die Ihre Erzählung überflüssig machen.»
Miss Russell erhob sich.
«Ich danke Ihnen vielmals, Monsieur Poirot», sagte sie. «Sie waren sehr gütig – wirklich sehr gütig zu mir. Sie … Sie glauben mir doch, nicht wahr? Dass Charles nichts mit diesem furchtbaren Mord zu tun hat?»
«Es steht unzweifelhaft fest, dass der Mann, der um halb zehn mit Mr. Ackroyd in der Bibliothek sprach, unmöglich Ihr Sohn gewesen sein kann. Seien Sie guten Mutes, alles wird noch gut werden.»
«Das ist es also?», forschte ich. «Immer wieder kommen wir auf Ralph Paton zurück. Wie fanden Sie heraus, dass Charles Kent gerade Miss Russell treffen wollte? War Ihnen die Ähnlichkeit aufgefallen?»
«Schon lange hatte ich sie mit dem Unbekannten in Verbindung gebracht, ehe ich ihn persönlich sah. Gleich nachdem wir den Federkiel gefunden hatten, der auf einen Kokainsüchtigen schließen ließ, entsann ich mich Ihres Berichtes über Miss Russells Besuch bei Ihnen. Dann fand ich im Morgenblatt den Artikel über Kokain. Jetzt schien mir alles sehr klar. Sie hatte am Vormittag von jemandem gehört, der gewohnheitsmäßig Betäubungsmittel nahm, sie las den Artikel in der Zeitung und kam zu Ihnen, um einige tastende Fragen zu stellen. Sie erwähnte Kokain, weil der Artikel gerade von diesem Rauschgift handelte. Dann, als Sie sich zu interessiert zeigten, wich sie eiligst von dem Thema ab. Ich vermutete gleich einen Sohn oder Bruder oder sonst irgendeinen unerwünschten männlichen Verwandten. Doch nun muss ich gehen. Es ist Essenszeit.»
«Nehmen Sie den Lunch mit uns», schlug ich vor.
Poirot schüttelte den Kopf und zwinkerte mit den Augen.
«Nein, heute nicht. Ich möchte Miss Caroline nicht zwei Tage hintereinander zu vegetarischer Diätkost zwingen.»
Es gab wirklich nicht viel, das Hercule Poirot entging.
21
C aroline hatte selbstverständlich Miss Russell kommen sehen. Ich hatte dies vorausgeahnt und einen umständlichen Bericht über ihr krankes Bein vorbereitet. Aber Caroline war nicht in der Stimmung, Kreuzverhöre anzustellen. Ihr Standpunkt war, dass sie genau wisse, weshalb Miss Russell wirklich gekommen sei, während ich keine Ahnung davon hätte.
«Um dich auszufragen, James», sagte Caroline. «Um dich auf schamlose Weise auszufragen, daran besteht für mich kein Zweifel. Es hat keinen Zweck, mich zu unterbrechen. Ich darf wohl behaupten, dass du es nicht einmal gemerkt hast. Männer sind doch so einfältig! Sie weiß, dass du Mr. Poirots Vertrauen genießt, und sie möchte etwas auskundschaften. Weißt du, was ich denke, James?»
«Das kann ich mir nicht vorstellen. Du denkst so vielerlei.»
«Wozu der Spott? Ich denke, Miss Russell weiß viel mehr über Mr. Ackroyds Tod, als sie zugeben will.»
Caroline setzte sich triumphierend in ihrem Sessel zurecht.
«Meinst du das wirklich?», fragte ich zerstreut.
«Wie langweilig du heute wieder bist, James. Gar kein Leben ist in dir. Das kommt von deiner Leber.»
Die von Poirot inspirierte Notiz erschien am nächsten Morgen in unserer Tageszeitung.
Ihr Zweck war mir völlig unklar, doch der Eindruck auf Caroline war ganz ungeheuer.
«Armer Junge, so haben sie ihn doch erwischt. James, ich halte es für deine Pflicht, alles in Bewegung zu setzen, damit er nicht gehenkt wird.»
«Was soll ich tun?»
«Nun, du bist doch Arzt, nicht? Du kennst ihn doch von Kindesbeinen an. Nicht zurechnungsfähig. Von dieser Seite musst du die Sache angehen, das ist klar. Ich las erst neulich, dass sie im Zuchthaus Broadmoor ganz glücklich sind. Es ist dort fast wie in einem Klub.»
Carolines Worte erinnerten mich an
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