Alibi
etwas.
«Ich wusste übrigens gar nicht, dass Poirot einen schwachsinnigen Neffen hat», sagte ich neugierig.
«Nicht? Oh, er hat mir alles darüber erzählt. Armer Teufel. Er ist der große Kummer der ganzen Familie. Sie behielten ihn bisher zuhause, doch verschlimmert sich sein Leiden immer mehr. Sie werden ihn wahrscheinlich in einer Anstalt unterbringen müssen.»
«Mir scheint, du weißt jetzt schon so ziemlich alles, was Poirots Familie betrifft», unterbrach ich sie.
«Ja, so ziemlich», sagte Caroline mit Behagen. «Es ist den Leuten so eine Erleichterung, sich über ihre Sorgen aussprechen zu können.»
«Möglich», erwiderte ich, «wenn sie es aus eigenem Antrieb tun dürfen. Ob es sie aber besonders freut, wenn die vertraulichen Mitteilungen von ihnen erpresst werden, ist eine andere Frage.»
Caroline sah mich mit dem Ausdruck eines Märtyrers an, dem sein Märtyrertum Glück bedeutet.
«Du bist so verschlossen, James», sagte sie. «Es widerstrebt dir, dich auszusprechen, und du denkst, jeder müsse dir gleichen. Ich hoffe, ich habe noch von niemandem vertrauliche Mitteilungen erpresst. Falls zum Beispiel Mr. Poirot heute Nachmittag herüberkommt, was er in Aussicht gestellt hat, so wird es mir nicht im Traum einfallen, ihn zu fragen, wer heute früh am Morgen bei ihm eingetroffen ist.»
«Ganz früh am Morgen?», fragte ich.
«Sehr zeitig», sagte Caroline. «Noch ehe die Milch kam. Ich blickte eben aus dem Fenster. Es war ein Mann. Er kam in einem geschlossenen Auto und war völlig vermummt. Ich konnte keinen Schimmer seines Gesichtes erhaschen. Aber ich will dir meine Ansicht sagen, und du wirst sehen, dass ich recht habe.»
«Was ist deine Ansicht?»
Caroline dämpfte geheimnisvoll ihre Stimme.
«Ein Sachverständiger», hauchte sie.
«Ein Sachverständiger?», wiederholte ich verblüfft. «Aber liebe Caroline, was für ein Sachverständiger denn?»
«Achte auf meine Worte, James. Du wirst sehen, dass ich recht habe. Jenes Frauenzimmer, die Russell war heute Vormittag da, um nach deinen Giften zu sehen. Roger Ackroyd kann an jenem Abend leicht durch Gift in seinen Speisen umgekommen sein.»
«Unsinn», lachte ich. «Er wurde von hinten erstochen. Du weißt das ebenso gut wie ich.»
«Nach dem Tod, James», sagte Caroline, «um auf eine falsche Spur zu lenken.»
«Mein liebes Kind, ich habe den Leichnam untersucht und ich weiß, was ich behaupte. Jene Wunde entstand nicht nach dem Tod – sie war die Todesursache, da ist kein Irrtum möglich.»
Es war interessant, Caroline zu beobachten, als Poirot nachmittags wirklich kam. Meine Schwester stellte die Frage nach dem geheimnisvollen Gast auf vielfältig verhüllte Weise. An Poirots Augenzwinkern erkannte ich, dass er die Absicht merkte. Er blieb jedoch vollkommen unzugänglich und parierte ihre Angriffe so erfolgreich, dass sie in Verlegenheit kam, wie sie fortfahren solle. Nachdem er das kleine Spiel genügend genossen hatte, erhob er sich und schlug einen Spaziergang vor.
«Ich muss etwas für meine Figur tun», erklärte er. «Kommen Sie mit, Doktor? Und vielleicht gibt uns Miss Caroline dann später eine Tasse Tee?»
«Mit Vergnügen», sagte Caroline. «Möchten Sie nicht vielleicht auch Ihren Gast mitbringen?»
«Sie sind zu gütig», sagte Poirot. «Aber mein Freund ruht sich noch aus. Sie werden bald seine Bekanntschaft machen.»
«Ein alter Freund von Ihnen, wie jemand erzählte.» Caroline versuchte einen letzten, tapferen Vorstoß.
«So, wurde Ihnen das erzählt? Nun müssen wir aber gehen.»
Wir wanderten Richtung Fernly. Ich hatte im Voraus vermutet, dass es so sein werde. Ich fing an, Poirots Methode zu erfassen. Jede noch so kleine Belanglosigkeit bezog sich auf das Ganze.
«Ich habe einen Auftrag für Sie, mein Freund», sagte er endlich. «Ich möchte heute Abend bei mir zuhause eine kleine Besprechung abhalten. Sie werden doch kommen, nicht wahr?»
«Gewiss», sagte ich.
«Gut. Ich brauche alle Beteiligten – das soll heißen: Mrs. Ackroyd, Miss Flora, Major Blunt, Mr. Raymond. Ich bitte Sie, mein Wortführer zu sein. Die kleine Versammlung ist für neun Uhr angesetzt. Wollen Sie die Einladung übernehmen?»
«Mit Vergnügen, aber warum laden Sie nicht selbst ein?»
«Weil man fragen wird: Warum? Wozu? Sie werden erfahren wollen, was ich beabsichtige. Und wie Sie wissen, habe ich einen Widerwillen dagegen, meine kleinen Einfälle vor der Zeit mitzuteilen.»
Ich lächelte ein wenig.
«Mein Freund
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