Alibi
Unterredung beiwohnen darf.»
«Aber natürlich! In Ihrem eigenen Behandlungszimmer!»
«Weshalb sind Sie eigentlich so begierig, Miss Russell zu sprechen?»
Poirot zog die Brauen in die Höhe. «Das ist doch einleuchtend», meinte er.
«Da haben wir es wieder», brummte ich. «Ihnen leuchtet alles ein, aber mich lassen Sie im Dunkeln tappen.»
Poirot schüttelte freundlich den Kopf.
«Sie spotten über mich. Nehmen Sie zum Beispiel die Sache mit Miss Flora. Der Inspektor war überrascht, aber Sie – Sie waren es nicht.»
Ich dachte ein wenig nach.
«Vielleicht haben Sie recht», gab ich schließlich zu. «Ich fühlte, dass Flora etwas verheimlichte, daher traf mich die Wahrheit nicht völlig unerwartet. Aber den armen Raglan hat es schon sehr angegriffen.»
«Allerdings! Der arme Mann muss alle seine Ansichten umstellen. Ich habe seinen Gemütszustand übrigens ausgenutzt und ihn veranlasst, mir einen kleinen Gefallen zu erweisen.»
«Und?»
Poirot zog ein Blatt Papier aus der Tasche. Es standen einige Worte darauf, die er laut vorlas.
«‹Seit einigen Tagen fahndet die Polizei nach Captain Ralph Paton, dem Stiefsohn von Mr. Ackroyd auf Fernly Park, der Freitag unter so tragischen Umständen ums Leben kam. Captain Paton wurde in Liverpool verhaftet, als er sich gerade nach Amerika einschiffen wollte.› Dies, mein Freund, wird morgen in den Zeitungen stehen.»
Ich starrte ihn verblüfft an.
«Aber – aber das ist doch nicht wahr! Er ist doch nicht in Liverpool.»
Poirot lachte mich an.
«Sie haben eine rasche Auffassungsgabe! Nein, er wurde nicht in Liverpool gefunden. Inspektor Raglan war auch sehr abgeneigt, diese Notiz der Presse zu übergeben. Da ich ihm aber versicherte, dass die Veröffentlichung sehr interessante Ergebnisse zeitigen würde, gab er schließlich nach.»
«Ich zerbreche mir den Kopf darüber», sagte ich endlich, «was Sie davon erwarten.»
«Sie sollten Ihre kleinen grauen Zellen gebrauchen», versetzte Poirot ernst.
Er erhob sich und trat an meine Werkbank heran.
«Die Technik scheint wirklich Ihre große Leidenschaft zu sein», sagte er, nachdem er meine Basteleien besichtigt hatte.
Jeder hat sein Hobby. Ich lenkte Poirots Aufmerksamkeit auf mein selbst gebautes Funkgerät und zeigte ihm noch einige meiner kleinen Erfindungen – unbedeutende Dinge, die sich jedoch im Hause sehr bewähren.
«Mir scheint», sagte Poirot, «Sie hätten Erfinder werden sollen. Aber ich höre die Glocke – das ist gewiss Ihre Patientin.»
Er hatte recht.
«Guten Morgen, Mademoiselle», begrüßte Poirot sie. «Wollen Sie nicht Platz nehmen? Doktor Sheppard ist so gütig, mir sein Zimmer zu einer kleinen Unterredung mit Ihnen zur Verfügung zu stellen.»
Miss Russell setzte sich. Falls sie innerlich erregt war, offenbarte sich dies in keiner Weise.
«Sie wünschen?», begann sie. «Ihre Aufforderung, hierherzukommen, hat mich – etwas überrascht.»
«Miss Russell, ich habe eine Nachricht für Sie.»
«Wirklich?»
«Charles Kent ist in Liverpool verhaftet worden.»
In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel. Sie öffnete kaum merklich die Augen etwas weiter und fragte zurückhaltend: «Was – interessiert mich das?!»
In diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Ähnlichkeit, die mich so lange verfolgt hatte – das Vertraute in dem selbstbewussten Wesen von Charles Kent! Die beiden Stimmen, die eine rau und roh, die andere sorgsam beherrscht – sie hatten die gleiche Klangfarbe. Es war Miss Russell, an die ich in jener Nacht vor dem Gartentor von Fernly Park erinnert worden war.
Ich blickte Poirot an, und er nickte mir unmerklich zu.
«Ich dachte, es würde Sie interessieren, sonst nichts.»
«Wer ist übrigens Charles Kent?», fragte Miss Russell.
«Der Mann, Mademoiselle, der in der Mordnacht in Fernly war.»
«Wirklich?»
«Glücklicherweise hat er ein Alibi. Um drei viertel zehn war er in einer Schenke, eine Meile von hier.»
«Gut für ihn», bemerkte sie.
«Wir wissen jedoch immer noch nicht, was er in Fernly wollte – zum Beispiel, wen er dort besuchte.»
«Leider kann ich Ihnen da nicht behilflich sein», entgegnete die Haushälterin höflich. «Ich weiß nichts davon. Wenn das alles ist …»
Sie versuchte aufzustehen, doch Poirot hielt sie zurück.
«Das ist noch nicht alles», fuhr er ruhig fort. «Heute früh bekam die Sache eine neue Wendung. Es hat jetzt den Anschein, als wäre Mr. Ackroyd nicht um drei viertel zehn Uhr ermordet worden,
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