Alicia II
entdeckte ich Schattenmuster.
»Du meinst, wir sollen in den Grenzen, die uns gezogen sind, tun, was wir können.«
»Genau. Du willst, was selbstsüchtige Leute immer wollen – ein Wunder. Ich hoffe dagegen, die Wunder kommen zu selbstlosen Leuten. Wie dem auch sei, du und Alicia, ihr solltet zusammenbleiben, solange es geht, und euer Leben, wie ihr es eben fertigbringt, glücklich, scheußlich oder mittelmäßig gestalten. Das Leben braucht nicht ewig zu dauern, und die Liebe auch nicht – ist das etwa kein Kernspruch? Vielleicht gelingt es euch, eine volle Lebensspanne gemeinsam zu verbringen, vielleicht auch nicht. Wo ist da ein Unterschied? Wenn du am Ende der Straße oder der Bahn oder der Brücke des Lebens angelangt bist, kannst du sie vielleicht überreden, daß sie sich dir im Beinhaus anschließt. Und dann werdet ihr beide in gestohlenen neuen Körpern wiedergeboren und könnt euch schadlos halten für das, was euch entgangen ist.«
»Alicia ist gegen das Erneuern, das hast du eben selbst gesagt. Sie wird niemals …«
»Ich weiß. Zum Teil will ich dich quälen, zum Teil denke ich mir aber auch: Wer weiß, wie ihre Einstellung sein wird, wenn sie einmal achtzig ist und mit dem Kopf wackelt? Es ist ein Risiko, und du bist doch stolz auf deine Fähigkeit, Risiken einzugehen. Jedenfalls ist das mein Rat. Und du siehst gar nicht aus, als seist du glücklich darüber.«
»Ben, ich möchte so zynisch sein wie du! Dann könnte ich es akzeptieren, daß …«
Ben schmetterte die Faust auf den Schreibtisch, so daß Papiere davonflatterten und ich erschrocken in meinem Sessel zurückfuhr.
»Verdammt, Voss, das sieht dir ähnlich! Du nennst mich zynisch. Okay, mach es auf deine Art. Ich habe dir meinen Rat gegeben, und du kannst damit anfangen, was du willst. Um den am wenigsten schmerzlichen Weg zu wählen, bist du ja doch zu trübsinnig.«
»Den am wenigsten schmerzlichen Weg?«
»Am wenigsten schmerzlich für Alicia. Und für dich selbst, wenn du es nur einsehen würdest. Okay, wahrscheinlich würde es sowieso nicht klappen. Wenn ich Alicia richtig einschätze, wird sie sich nicht zu dem zu Hause sitzenden Frauchen entwickeln, das ein zäher Kerl wie du braucht. Auch wird sie mit nichts als Zärtlichkeit nicht ganz zufrieden sein. Aber ihr könnt ein paar Tage, sogar ein paar Monate haben. Nehmt sie euch!«
»Nein. Ich kann nicht. Es wäre nicht fair gegen sie, nicht fair gegen …«
»Nicht fair gegen dich, das meinst du im Grunde damit, mein Freund. Okay, es ist nicht fair. Du willst mehr, sogar sie wird mehr wollen. Deiner Ansicht nach muß etwas unternommen werden. Scheiße. Vielleicht könnte etwas unternommen werden.«
Ben wählte diesen Augenblick, um die Wand von neuem mit Blicken zu bombardieren. Ich hätte ihn lieber wieder in seiner knappen, professionellen Art gesehen. An die Nervosität, die Unschlüssigkeit des erneuerten Ben war ich nicht gewöhnt.
»Verdammt«, stieß ich endlich hervor. »Was? Was kann unternommen werden?«
»Ich habe vielleicht gesagt, vergiß das nicht. Aber es könnte eine Operation möglich sein.«
»Eine Operation? Hast du nicht gesagt …«
»Ja, ich erinnere mich, daß ich dir gesagt habe, eine Operation komme nicht in Frage. Das ist Jahre her. Damals tauchten gerade die ersten Sabotagefälle auf. Heute wissen wir mehr über die Techniken, die bei der Sabotage angewandten chirurgischen Techniken. Reparaturen können …«
»Das hast du gewußt? Die ganze Zeit, seit ich zurückgekommen bin, hast du es gewußt und nicht einmal darüber gesprochen?« – »Reg dich ab. Ich habe darüber nachgedacht, ich habe die Gefahren o ja, es gibt Gefahren! – abgewogen und mich entschlossen, dir nichts davon zu erzählen und auf einen geeigneteren Zeitpunkt zu warten. Jetzt ist er gekommen, wie du zugeben wirst. Eine Operation und es müssen mehrere durchgeführt werden – hat eine Erfolgsaussicht von weniger als fünfzig zu fünfzig, und …«
»Das riskiere ich.«
»Eine deiner Schwächen. Du gehst ein Risiko ein, auch wenn die Wahrscheinlichkeit mit mehr als fünfzig Prozent gegen dich steht. Nun zu deinem Körper. Mehr als vierzehn Jahre sind vergangen, seitdem du diesen Apollo-Körper geerbt hast, vierzehn Jahre, in denen die Sabotage wer weiß was für Folgen gehabt haben kann. Ein Abbau, eine Atrophie, alle möglichen Entwicklungen, von denen du als Laie nichts weißt und die du nicht verstehen würdest. Es gibt zu viele Möglichkeiten, die dein Leiden
Weitere Kostenlose Bücher