Alicia II
ich überhaupt nichts.«
»Nun, das war damals, und der Brauch hielt sich nicht lange. Aber von ihm stammen all die Versicherungsverträge her, die es heutzutage gibt. Siehst du, es ergab sich, daß zu jener Zeit Menschen mit vollkommen normalen Körpern existierten, die kein Interesse daran hatten, ihr elendes Leben bis zu Ende zu führen. Viele Jahrzehnte lang hatten Psychologen und Psychiater die Verhinderung von Selbstmorden als hohes Ideal hingestellt. Jetzt hatten sie plötzlich die sehr gelegen kommende Einsicht, vielleicht solle man Menschen, die zu verzweifelt waren, als daß man ihnen den Selbstmord noch ausreden konnte, all den Schmerz und die Verstümmelungen ersparen, die den Akt im allgemeinen begleiten. Insgeheim und mit einigem Interesse an den psychologischen Faktoren des Erneuerns begannen sie ihre Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlern und Technikern der Erneuerungszentren. Sie lieferten die Körper verzweifelter Menschen, die entweder aus eigenen Gründen oder aus Erwägungen, die ihnen die Erneuerer eingeblasen hatten, sich bereit erklärten zu sterben, indem sie ihre Körper spendeten. Deshalb …«
»Ben«, fragte Alicia, »was meinst du mit Erwägungen?«
»Das ist die primitive Form der Versicherung. Meistens waren es im Grunde finanzielle Schwierigkeiten, die die Leute zum Selbstmord trieben. Sie hatten Familien oder geliebte Menschen, die sie nicht versorgen konnten oder für die sie sich ein besseres Leben wünschten. Die Erneuerer boten den Selbstmördern für ihre Hinterbliebenen großzügige Belohnungen an. Jeder Handel war annehmbar, wenn nur ein Körper dabei heraussprang. Natürlich wurden Selbstmörder mit körperlichen Defekten nicht so generös behandelt wie solche in gutem Zustand, aber das war schließlich Geschäft. Die Forscher hatten zweifellos auch die Heranzüchtung von Schönheit als wünschenswertes Selbstmordziel im Auge. Hatte ein Spender keine Angehörigen, wurde er überredet, irgendeinem guten Zweck Geld zu spenden, und oft war es ein Zweck, der weitere Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Erneuerung ermöglichte. Das war ein raffinierter Trick unserer finanziell verantwortungsbewußten Pioniere. Ich meine, es herrschte damals zwar kein Mangel an Subventionsgeldern, aber da sie ihr Projekt ziemlich geheim hielten, mußten sie qualvolle dokumentarische Manöver durchführen, um an die Gelder heranzukommen. Trotzdem besorgten sie sich ungeachtet aller Schwierigkeiten eine ganze Anzahl von Körpern. Beweismaterial darüber, daß Menschen endlich erneuert werden könnten, stapelte sich zu Bergen. Die psychischen Nebenwirkungen waren minimal und meistens positiv. Es ist schon merkwürdig, sich in einem neuen Körper zu befinden, aber dabei ist es doch ein schönes Gefühl, richtig? Keine physischen Nachwirkungen. Alles war bestens. Es gab nachweislich Seelen, und sie konnten von Menschen manipuliert werden. Sie waren nicht schwieriger zu manipulieren oder zu steuern als Mikrowellen. Im Grunde leichter. Ein Sprung vorwärts in der Evolution!«
»Gott«, sagte Alicia, »es ist abstoßend. Wie konnten intelligente Menschen so etwas tun? Wie konnten sie auf diese Weise denken? Wie konnten …«
»Langsam, meine Liebe, laß den Rückblick das Wunder der Entdeckung nicht trüben. Diese Leute waren außerordentlich optimistisch. Denke daran, sie hatten die Grenzen der genetischen Manipulation, der körperlichen Heilung, der psychischen Anpassung überschritten. Du würdest staunen über all die sonnigen Theorien, die sie seinerzeit auf das Erneuern anwandten. Die Leute, die an dem Projekt arbeiteten, betrachteten es als glorreiche Errungenschaft. Mach dir klar, Alicia, daß solche Leute für gewöhnlich nicht über ihr Fachgebiet hinausblicken. Voss hier kann dir aus seinem ersten Leben einige Einsichten in diese Art des Denkens vermitteln. Stimmt’s, Voss?«
»Ja, es stimmt. Es hat Zeiten gegeben, in denen mir der Gedanke, die Enklave zu verlassen, Entsetzen einflößte.«
»Die Väter des Erneuerns«, fuhr Ben fort, »sahen nie voraus, welcher Gebrauch davon gemacht oder daß es Grundlage eines ganzen sozialen Systems werden würde. Hätten sie weiter mit Lust und Liebe daran gearbeitet, einigen wenigen Auserwählten neues Leben zu geben, anderen verhaßtes Leben zu nehmen, und das alles isoliert von der übrigen Menschheit, dann hätten sie dieser wohl einen nützlichen kleinen Dienst erwiesen, wie sie es in ihrem Optimismus glaubten. Nur schade, daß sie in ihrer
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