Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Schritt zurückwich. Mit einem Zupfen an ihrem Geist löste er sich in einem grauen Nebel auf und erschien wieder in seiner weniger furchteinflößenden menschlichen Gestalt. Er kniff die Augen gegen die tief stehende Sonne zusammen und baute sich neben ihrem Kopf auf.
»Und jetzt«, sagte er laut, denn mit menschlichen Stimmbändern konnte er wieder sprechen, »will ich wissen, wer dir das gesagt hat.«
»Silla«, antwortete sie. »Silla hat mir das gesagt.« Er trat wieder vor, und seine Augen glitzerten wie im Fieber. Alissa riss den Kopf hoch, aus seiner Reichweite. »Es tut mir leid!«, rief sie erneut. » War das falsch? Ich werde es nicht wieder sagen!«
Nutzlos blieb ruckartig stehen. Er faltete die Hände im Rücken und holte tief Atem. Seine Lippen schürzten sich. »Wer ist Silla?«, fragte er mit täuschend sanfter Stimme.
»Nur jemand aus einem Traum«, erklärte Alissa verwundert. »Ich habe manchmal von ihr geträumt, wenn ich einsam war. Bevor ich eine Meisterin wurde.« Alissa spürte, dass sie errötete. Sie blickte an sich hinab und sah, dass ihre goldene Haut nun beinahe tiefrosa schimmerte. Es war ihr peinlich, zugeben zu müssen, dass ihr dieser Traum so wirklich und Silla wie eine echte Freundin erschienen war.
Nutzlos blinzelte langsam, als müsse er Kraft sammeln. »Raku oder Mensch?«, fragte er leise.
»Äh … Raku«, sagte Alissa, die sich an Sillas lange Finger und goldene Augen erinnerte. Sie hatte schon von Silla geträumt, ehe sie die Feste gefunden hatte. In einem Traum von ihrem Vater hatte sie die junge Frau dabei ertappt, wie sie gerade aus Alissas Schlafzimmerfenster kletterte. Ihre eingebildete Freundin hatte seither auch den Weg in einige andere Träume gefunden, meistens dann, wenn Alissa ungewöhnlich müde oder traurig war. Dann kam Silla und heiterte sie mit Geschichten über ihre eigenen Missgeschicke und frustrierenden Erlebnisse mit ihrer Lehrerin auf.
Alissa senkte langsam den Kopf und entspannte sich ein wenig. Plötzlich kam es ihr selbst merkwürdig vor, dass sie von einem Mädchen mit langen Raku-Fingern und goldenen Augen geträumt hatte, bevor sie überhaupt gewusst hatte, dass Meister in ihrer menschlichen Gestalt so aussahen.
»Wie … wie alt ist sie?«, fragte Nutzlos.
Er ging erregt auf und ab, und Alissa starrte ihn an, bis er abrupt vor ihr stehen blieb. Sie hatte damit gerechnet, geschlagen oder zumindest sehr ernst gerügt zu werden. »Jünger als ich«, sagte sie. »Aber nicht viel.« Sie spürte, wie ihr Puls sich verlangsamte. »Sollte ich das nicht sagen?«, fragte sie vorsichtig.
Er fuhr sich mit der Hand über das kurze weiße Haar. »Das wäre logisch. Ja, das könnte es erklären. Träumst du jede Nacht von ihr oder nur manchmal?«
Verblüfft senkte Alissa den Kopf wieder auf seine Höhe herab. »Inzwischen fast gar nicht mehr. Ich habe viel von ihr geträumt, während ich mich vor drei Wintern von dieser Verbrennung an meinen Pfaden erholt habe.« Ihr Herz schlug nun beinahe normal, doch sie konnte immer noch kaum glauben, dass er sich mehr über Sillas Worte aufregte als über ihre eigenen Beleidigungen.
»Tagsüber«, sagte Nutzlos und erschreckte sie mit seiner heiseren Stimme. »Du träumst also tagsüber von ihr.«
Alissa nickte und wurde sich dieser Tatsache nun selbst erst bewusst.
»Was hat sie an?«, verlangte er zu wissen. »Du hast gesagt, sie sei ein Raku. Sie kann also eine menschliche Gestalt annehmen, ja?«
Alissa wich zurück und fragte sich, ob Nutzlos vielleicht den Verstand verlor. Vorsichtig spähte sie über den Rand des Daches und wünschte, Connen-Neute würde endlich hier erscheinen. »Meistergewänder.«
»Nein«, sagte Nutzlos ungeduldig. »Welche Farbe?«
»Violett, mit einer roten Schärpe.«
Nutzlos’ Augen blitzten auf. »Connen-Neute!«, brüllte er in seinen Gedanken, und Alissa zuckte ob der geistigen Lautstärke zusammen. »Komm sofort aufs Dach!« Ein Lächeln, das nicht verrückt, aber ein wenig trunken wirkte, breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Sie leben«, sagte er wie zu sich selbst, als er an den Rand trat und in den Garten hinabblickte, um nach Connen-Neute zu sehen. »Sie leben! Und dir ist wieder einmal das Unmögliche gelungen.«
– 3 –
A lissa stieß ängstlich den Atem aus und pustete sich dabei das Haar aus der Stirn. »Aber ich bin nicht müde«, beklagte sie sich, und ihr Blick schoss zwischen den beiden Männern hin und her.
Nutzlos lehnte sich entnervt auf
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