Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
lang sitzen, und Alissa zog Kraft aus seinem verständnisvollen Schweigen.
»Ich kann das nicht tun, Strell«, flüsterte sie und strich über die Schwielen an seinen Händen. »Was, wenn ich die Kontrolle verliere? Was, wenn ich –«
»Das wirst du nicht«, unterbrach Strell sie mit tröstender Stimme. Sie holte Luft, um zu protestieren, und verstummte, als er ihr den Zeigefinger an die Lippen legte. »Alissa, hör mir zu«, sagte er sanft. »Wenn man in Trance ist, überlässt man seinen Willen nicht einem anderen, man befreit sich nur von gedanklichen Hemmungen. Dass du in Trance etwas tust, das du nicht willst, ist nicht wahrscheinlicher als im Wachzustand. Ich bin Musikant. Glaubst du mir?« Strell strich ihr das Haar hinter die Ohren, und seine Finger fühlten sich an ihrem Hals rau und warm an.
Sie nickte kläglich und wischte sich die feuchten Augen. Sie schämte sich schrecklich für ihre Feigheit. Nutzlos hatte zwanzig Jahre ohne seine Frau verbracht, seine Kollegen, alle, die er gekannt hatte. Und nun hinderte ihre Schwäche diese Leute daran, vielleicht nach Hause zu kommen. Sie benahm sich albern. Niemand in der Feste würde ihr Leid zufügen. Niemand.
Alissa atmete tief durch. »Du wirst doch hier bei mir bleiben?«, fragte sie.
In Strells braunen Augen glitzerte etwas, das wie Stolz aussah. »Ja, und ich halte auch alle anderen draußen, bis du wieder wach bist, wenn du möchtest.« Er strich sich mit der Hand über den Kopf und griff nach der Spange, die sein dunkles Haar zurückhielt. »Wenn dir das recht ist?«
Bei seinen letzten Worten pochte ihr Herz vor Rührung, und sie sah forschend in sein besorgtes Gesicht. Asche, dachte sie und fühlte mit ihm. Er wollte ihr helfen, doch als Gemeiner, der keine Banne wirken konnte, glaubte er, er könne nichts für sie tun. Er ahnte nicht, welche Kraft sie daraus zog, dass er einfach nur da war und sie nicht allein ließ.
Sie konnte seinem Blick nicht standhalten und nickte stumm. Mit drei tiefen, geübten Atemzügen ließ Alissa ihre Anspannung los. Sie konzentrierte sich auf Strell und dessen aufmunterndes Lächeln, ehe sie die Augen schloss und sich bereitmachte, ihren neuen Bann aufzubauen.
Tief in ihrem Unterbewusstsein ruhte eine glitzernde, silbrige Kugel aus Kraft, die ihr Papa ihr vor seinem Tod gegeben hatte. Sie war ihr in Liebe geschenkt worden, und deshalb war Alissa in der einmaligen Situation, so viel Kraft zu besitzen, ohne jemandem dafür Treue und Gefolgschaft zu schulden. Nicht einmal Nutzlos. Er unterwies sie, um sein Wissen weiterzugeben, und sie unterwarf sich seiner Führung allein aus Respekt.
Die schimmernde Kugel war ihre Quelle, der Anfang von allem. Die Kraft darin wurde von unzähligen feinen Fäden in dieser Kugelform gebunden. Das Ganze erinnerte Alissa stets an ein locker gewickeltes Wollknäuel. Hier und da schimmerte die enthaltene Kraft hindurch und ließ die Kugel heller glänzen als jeden Stern. Noch nie hatte Alissa sich irgendeinen Eindruck davon verschaffen können, was von diesen Fäden umschlossen wurde. Nutzlos hatte ihr einmal erklärt, das liege daran, dass ihr begrenzter Geist vor der Unendlichkeit zurückschrecke.
Alissa ließ sich tiefer in ihre innere Landschaft gleiten und genoss dieses langsame Abtauchen anstelle des üblichen, ruckartigen Sprungs, den sie sonst unternahm, um Banne schnell aufzubauen. Während das Feuer im Kamin zischte und knackte, verlangsamte sich ihr Denken, und ihre Pfade, die Gefährten ihrer Quelle, schienen vor ihrem inneren Auge hervorzuschmelzen. Ein vielfach verschlungenes Gewirr von blauschwarzen Linien breitete sich um die Kugel herum in alle Richtungen aus. Die Linien waren vor der Schwärze ihres Geistes kaum zu erkennen. Tautropfen von leuchtenderem Blau markierten die Stellen, wo sich einzelne Pfade trafen und wieder trennten. Ein goldener Schimmer hob die Pfade wie von schwachem Nebel erfüllt hervor, wenn sie sie schräg von der Seite betrachtete.
Alissa sandte einen Gedanken aus und zapfte damit die leuchtende Quelle an. Ein mit Silberfaden durchzogenes Band aus Energie schoss hervor und übersprang die Lücke zu ihren Pfaden. Das Band berührte einen einzigen Knotenpunkt und schwang sich in einem Bogen zurück zu ihrer Quelle, wobei es sich überkreuzte und eine Schleife bildete. Das war die primäre Sequenz, behauptete jedenfalls Nutzlos. Alissa nannte sie »nichts«, denn genau das tat diese Schleife.
Ihr bewusster Verstand schärfte sich wieder, als sie
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