Alix ... : Historischer Roman (German Edition)
der Abendvogel. Alix trocknete die letzten Zeilen ihres Berichtes, als Villaine klopfte. Er hatte eine Rolle Leder und einen Tiegel mit flüssigem Harz bei sich. Sie rümpfte die Nase über die üblen Schwaden, die sogleich durch den Raum zogen, und beeilte sich, das Leder um die Pergamente zu schlagen. Zum Schluss steckte sie die graue Perle und die beiden Hälften des Schicksalsrades hinein. Villaine verschnürte das Bündel und bestrich das Leder dünn mit dem Pech. Sie warteten, bis alles trocken war. Dann riefen sie Damian zu sich und verließen mit ihm unauffällig das Gemach. Niemand kümmerte sich um sie.
Atemlose Eile auf den Gängen des Palatiums, hohe Stimmen aus offenen Türen, aufgeregtes Kindergeschrei. Knappen, Pagen, Mägde, Knechte mit hochroten Gesichtern. Gepackte Bündel, Säcke, Taschen. Die Vorbereitungen zur Flucht waren in vollem Gange.
Der Spielmann führte Alix und Damian ins Untergeschoß, in die Küche, zu den Vorratsräumen. In der letzten der zahlreichen Kammern schob er einen schweren mit Korn gefüllten Kasten beiseite. Darunter gähnte ein tiefes Loch.
Mithilfe einer Leiter kletterten sie hinab. Der Junge, der nicht wusste, was die Mutter vorhatte, sah drein wie ein furchtsames Vögelchen.
„Befindet sich hier auch der Zugang zu dem Geheimweg nach Cabaret?“, fragte Alix, als sie an einer Flucht verwitterter Sandsteinmauern vorbeikamen.
Villaine schüttelte den Kopf. „Nein, dieser unterirdische Gang ist Jahrhunderte alt. Er hat keine Verbindung zu den anderen Gängen. Folgt mir!“ Er fasste Damian bei der Hand, und führte sie zu einem seitlich gelegenen Stollen, wo er mit der Fackel eine bestimmte Wand ausleuchtete. „Seht Ihr diese Ringe? Sie dienten einst der Vorratshaltung, doch sie werden seit langem nicht mehr benutzt. Niemand wird Euer Versteck finden.“
Alix stellte sich auf die Zehenspitzen und betastete die breite, eingemeißelte Rille des Quadersteins, auf den der Fackelschein fiel. Dann schob sie vorsichtig das Bündel hinein, so weit, bis es verschwand.
Villaine hatte ganze Arbeit geleistet. Das Versteck war von unten nicht zu sehen.
Eine tiefe Ruhe breitete sich in Alix aus. „Hört gut zu, ihr beiden“, sagte sie zu Villaine, aber vor allem zu Damian, „ihr seid die einzigen Menschen auf dieser Welt, denen ich jetzt mein Geheimnis anvertraue.“
Der Spielmann lächelte, als Alix ihrem Sohn vom Schicksalsrad und ihrem Vater Wilhelm erzählte. „Kurz vor seinem Tod hat er mich auf ein Rätsel aufmerksam gemacht, doch ich konnte mit seinen Worten nichts anfangen“, sagte sie. „Erst du, Damian, hast mich auf den richtigen Weg gebracht.“
„Ich?“ Der Junge sah sie verwundert an, und mit einem Mal leuchteten seine Augen auf, im Fackellicht.
Alix nickte. „Du hast mir vom Balken in Saint-Polycarpe erzählt.“
„Vom Panther mit den Bärentatzen, den ich darauf gezeichnet habe?“
„... und dem Löwenkopf, ja. Und von den Träumen, die du hattest, als dich Rashid, der Maure, seine Sprache lehrte. Du hast sie doch nicht vergessen?“
Damian schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich genau. Da waren auch Stimmen, die ich hörte, in der Nacht!“
Villaine hob bedeutungsvoll die Brauen. „Darauf hätte ich gewettet!“, sagte er leise.
„Nun, du kannst nicht wissen, Damian“, fuhr Alix fort, „dass ich deinem Großvater auf dem Totenbett eine ganz bestimmte Geschichte vorlesen musste, in der dieser Panther vorkommt. Sie steht am Ende der Heiligen Schrift.“
„Hat diese Geschichte mit dem Rätsel zu tun, das Euch mein Großvater aufgegeben hat, Mutter? So wie mir die Mönche eines stellten?“
„Ja, genauso war es. Du hast die erste Prüfung bestanden und mir zugleich geholfen, einen Teil des Rätsels meines Vaters zu lösen.“
„Aber wie lautete das Rätsel?“
„Es hieß: Das Glück liegt in der Mitte! Ich habe vor ein paar Tagen die Geschichte noch einmal gründlich durchgelesen und mühsam die Wörter abgezählt, bis ich auf die Mitte traf. Dort steht folgender Satz ...“
Alix machte eine kleine Pause.
Selbst Villaine sah sie jetzt verblüfft an. „Ihr habt tatsächlich Licht in das Rätsel gebracht?“
Alix nickte. „Dort steht folgendes:
„ Gehe hin,
nimm das offene Büchlein
von der Hand des Engels,
der auf dem Meer
und auf der Erde steht.“
„Ein Engel? Wisst Ihr denn, wo er sich befindet, Mutter? Können wir ihn aufsuchen? Und was steht wohl in diesem Büchlein? Ein weiteres Rätsel?“
Alix nickte. „Hab
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