Alix ... : Historischer Roman (German Edition)
Diese sahen folgendermaßen aus: Die Kreuzfahrer forderten, dass am Tag der Himmelfahrt Mariæ, „der Schutzherrin des Kreuzzugs“, alle Bewohner der Stadt „nackt“ - das bedeutete, die Männer in Hosen, die Frauen im Hemd, aber ohne die geringste Habe - die Stadt zu verlassen hatten, unter ihnen auch die „Guten Leute“, was endgültig jedermann bewies, um was es den Eroberern eigentlich ging. Darüber, dass zukünftig ein Franzose in Carcassonne herrschte, bestand kein Zweifel mehr.
„Verrat!“, schrie Bertrand von Saïssac, als Jordan zutiefst erschüttert die Nachricht überbrachte. Das noble Antlitz des Alten war grau geworden, eine Maske des Leids. Er schwankte, die beiden Cabarets stützten ihn. „Abschaum des Bösen“, ereiferte er sich. „Der elende Courtenay hat ihm freies Geleit versprochen. Auswurf der Hölle!“ Dann brach er in Tränen aus: „Tapfer ist Raymond von uns gegangen, voller Hoffnung für die Stadt.“
In den Gesichtern der Umstehenden stand das blanke Entsetzen. Ein Hauch von Unwirklichkeit zog durch den Saal wie Schatten verborgener Wolken.
Eleonore, die mageren, blaugeäderten Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, klagte stumm. Brunissendes rundes Gesicht lag tränenüberströmt an der Brust ihrer Schwägerin Na Loba. Wirre graue Strähnen hatten sich aus ihrem Schleiertuch gelöst.
Allesamt weinten sie, die adligen Frauen von Carcassonne - auch Alix. Selbst von draußen war lautes Wehklagen zu hören. Die Dienstboten standen dicht gedrängt in den Gängen vor dem großen Saal. Bald wusste auch der letzte Stallknecht, dass die Stadt am Ende war.
Da löste sich unvermittelt die Vizegräfin aus ihrer Erstarrung. Eine Gasse öffnete sich für sie, als Inés, den Käfig mit dem blauen Vogel in der Hand, den sie seit Tagen mit sich herumschleppte, in die Mitte der Camera rotunda trat. Sie räusperte sich, hob die rechte Hand. Das flammende Haar stand im Kontrast zur Blässe ihres fein geschnittenen Gesichtes. Als Ruhe eingekehrt war, schloss sie die Augen und fing mit zittriger Stimme das Se Canta zu singen an, das alte Lied Okzitaniens:
„Dejos ma fenèstra,
l a un auselon
tota la nuèch canta,
canta sa cançon
Zuerst lag betroffenes Schweigen im Saal, dann kam Bewegung in die Schar der Ritter und Vögte. Als ob sie Carcassonne ein zweites Mal den Lehnseid hätten schwören wollen, fielen sie, gestützt auf ihr Schwert, allesamt vor Inés auf ihre Knie - und zugleich in den Kehrvers des Liedes ein: Zuerst die Getreuesten unter ihnen: Bertrand von Saïssac, Peter von Cabaret, Jordan von Cabaret, dann Ramon von Termes, Wilhelm von Minerve, Sermon von Albedun ... Zum Schluss dröhnten hundertfach verstärkt die Stimmen sämtlicher Vasallen und ihrer Frauen durch das Schloss - unterstützt von denen, die draußen auf den Gängen standen und sich bei den Händen fassten:
Se canta, que cante
Canta pas per ieu,
Canta per ma mia
Qu`es al luènh de ieu.
Sie sangen voller Leidenschaft und weinten. Das wehmütige Lied, das von einem kleinen Vogel erzählte, der vor dem Fenster saß und für den fernen Geliebten sang, zählte fünf Strophen. Dann trat Inés ans Fenster, öffnete die Tür der kleinen Voliere und entließ den blaugefiederten Freund ihres Sohnes in die Freiheit.
Wie betäubt, fröstelnd, obwohl es unsäglich heiß war, stand Alix hinter einer der bunten Säulen. Sie war verwirrt, ja, erschüttert. Einmal über das Gebaren der Schwester, mehr aber noch über das Verhalten Raymond-Rogers. Weshalb hatte er ihre wichtige Nachricht nicht zur Rettung Carcassonnes genutzt? Bischof Fulco war doch wie der Teufel hinter den Toren her gewesen! Und mit dem, was sie gestern herausgefunden hatte, hätte Raymond-Roger sich und seine Stadt freikaufen können!
Verzweifelt umklammerte sie die Säule mit beiden Armen und schluchzte.
Na Loba trat zu ihr. Jordans Frau hatte es sich am Morgen nicht nehmen lassen, den Vizegrafen in schwarzer Männerkleidung ins feindliche Heerlager zu begleiten. Sie wirkte gefasst, doch unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Sie packte Alix beim Arm, dass es sie fast schmerzte. „Er hat sich als Geisel angeboten“, sagte sie leise zu ihr, „um die Stadt, Euch, uns alle, aber vor allem seinen Sohn zu retten. Ich will es auch den anderen sagen!“
„Hört alle auf zu weinen und zu klagen“, rief sie in die Runde der Vögte und Adligen. „Versteht ihr das denn nicht? Der Vizegraf hat sich für uns, für seine Stadt und seine Ehre in
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