Alix ... : Historischer Roman (German Edition)
Wochen geplagt hatte - wohl hervorgerufen von der eisigen Kälte im Stiegenhaus des Wohnturmes, durch das sie mehrmals täglich gehuscht war - hatte sie dahingerafft. Weder Thymian, Primelwurz, Wacholderöl, noch der Selige Isidor von Sevilla, den sie für gewöhnlich anrief, hatten ihr helfen können. Ja, selbst der Leibarzt Seiner Bischöflichen Gnaden, der auf Alix` dringliches Flehen gekommen war, hatte einen Rat gewusst. Mit einem letzten, jedoch eher gehauchten „Ogottogottogott“, und nachdem ihr ein dünnes Rinnsaal Blut aus dem Mundwinkel gesickert war, schloss sie am Tag des Heiligen Antonius, des Eremiten, für immer die Augen.
Alix war der Verzweiflung nahe.
Mit einem Linnenstreifen wusch sie das Gesicht der Toten, damit Estrella nicht unrein in den Himmel gehen musste. Sie zündete ein neues Wachslicht an und betete den Rosenkranz. Während ihre Lippen sich wie von allein bewegten und die Korallenperlen durch ihre Finger liefen, sah sie im Geiste Estrella vor sich, wie sie gewesen war: treu, eifrig bemüht, ja, umtriebig.
Wie geschickt sie doch immer, mittels einer Hühnerfeder, die sie zuvor in heißes Wasser getaucht hatte, Fettflecken aus Doña Agnès` Gewändern oder denen der Mädchen entfernt hatte! Und als Mutter den schwächlichen Thomas zur Welt brachte, war es ihr Rat gewesen, ihn sofort in gesalzenen und zerriebenen Rosenblättern zu wälzen, um seine Gliedmaßen zu stärken.
Der kleine Thomas, ihr Bruder … Alix lächelte wehmütig. Ob er wohl manchmal nach ihr fragte? Ach, Montpellier, die Heimat, war weit weg und entfernte sich von Tag zu Tag mehr. Estrella war ihre letzte Brücke dorthin gewesen.
Alix erhob sich. Sie schob die Bolzen zur Seite und stieß den Laden auf, um frische Luft hereinzulassen. Hinter den bewaldeten Bergen im Osten wurde es bereits hell.
Dann legte sie sich auf ihr Bett, um nachzudenken. Dass sie von jetzt an auf sich gestellt war, konnte auch von Vorteil sein. Eine Gelegenheit zur Flucht? ...
In ihrem Kopf begann sich eine Abfolge bestimmter Bilder zu entwickeln, und als endlich die Morgensonne ihre Strahlen in das Gemach schickte, stand ihr Plan fest. Entschlossen lief sie zu Estrella hin und schlug die spanischen Röcke der Frau hoch. Den mittleren Rock aus steifem Linnen streifte sie ihr über die Beine. Dann untersuchte sie ihn. Ganze acht Münzen waren zu ertasten, die sie jedoch nicht heraustrennte, sondern mitsamt dem Rock in ihre Truhe steckte.
Sie kleidete die Tote in ein dunkles Gewand aus Barchent, zu dem prächtige, tiefgefältelte Schmuckärmel gehörten, und schrieb rasch zwei kurze Briefe. Das kleinere Pergament rollte sie so dünn zusammen, wie es nur möglich war, und nähte es in eine der Ärmelfalten.
Danach schnitt sie die Perlenkette - das Weihnachtsgeschenk des Erzbischofs an Estrella - in zwei gleiche Teile, wobei sie geschickt die Enden verknotete, damit keine Perle verlorenging. Diese Perlenstricke drapierte sie nun kunstvoll im Zickzack über die Ärmel und nähte sie mit wenigen Stichen fest. Zuletzt stülpte sie der Toten die Ärmel über und band sie unterhalb der aufgenähten Borte an das Gewand. Mit wenigen, aber zärtlichen Kammstrichen fuhr sie über Estrellas Haar, bevor sie ihr die schwere Spitzenmantille anlegte, die die Kastilierin sonst nur an hohen Festtagen getragen hatte.
Als Alix wenig später die herausgeputzte Leiche betrachtete, flüsterte sie ihr zu: „Eine Hand wäscht die andere, Estrella! Ich sorge dafür, dass du nicht hier in dieser verhassten Stadt begraben wirst, und du erfüllst deinen Teil unserer Abmachung!“
Dann lief sie zur Tür und hämmerte mit der Faust dreimal dagegen. „Holt mir Rashid!“, brüllte sie ins Treppenhaus hinunter.
Nachdem der Maure mit einigen Dienern erschienen war, Estrella abzuholen und das Krankenlager aufzulösen, überreichte ihm Alix den vorbereiteten Brief.
„Richtet dem Sidi eine Bitte von mir aus“, sagte sie zu ihm, „er möge dafür Sorge tragen, dass meine Dame in einen hölzernen Sarg gelegt und nach Montpellier gebracht wird. Sie soll neben ihrer Schwester zur Ruhe kommen, wie es ihr letzter Wille war.“
Rashid runzelte die Stirn. Sein Blick wanderte von Alix über die Leiche auf das gefaltete und gesiegelte Pergament und wieder zurück. Misstrauisch fragte er. „Ist das Schreiben für Eure Mutter bestimmt?“
„Könnt Ihr nicht lesen?“, herrschte sie ihn an. „Es ist an Pater Nicolas gerichtet, den Beichtvater der Verstorbenen. Er ist der
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