Alix ... : Historischer Roman (German Edition)
letzten Jahr gelehrt, sich Wilhelm zu widersetzen, denn der Bruder besaß zwei Gesichter: Waren Doña Agnès, der Bischof, die Konsuln oder Pater Nicolas in seiner Nähe, schwätzte er neunmalklug daher und trug die Nase himmelwärts; war er mit den Geschwistern oder den Dienstboten allein, benahm er sich oft wie der schlimmste Stallknecht. Er misstraute allen und neigte nicht selten zu Wutausbrüchen. An manchen Tagen stellte er sich gar stumm. Wenn er Fisch essen wollte, wedelte er mit der Hand, hatte er Lust auf Milch, zog er an seinem kleinen Finger, als sei es die Zitze einer Ziege. Inés ging ihm in solchen Zeiten lieber aus dem Weg.
Jetzt schlich sie hinter seinem Rücken die Freitreppe zum Turm hinauf und setzte sich auf die oberste Stufe, mitten in die pralle Sonne. Sie stützte die Ellbogen auf ihre Knie und den Kopf in ihre Hände.
Wie sollte es bloß weitergehen? Nachdem ihr Alix das kleine Bildnis, das den Trencavel darstellte, freimütig zum Abschied geschenkt hatte, war ihr der Vizegraf nicht mehr so fremd. Wie jede junge Frau von Geblüt und Abstammung hätte auch Inés sich geehrt gefühlt, wenn er ihr in Minne verbunden gewesen wäre. Doch es war nun einmal Alix, die ihn hätte heiraten sollen. Der Vater hatte es so bestimmt. Zwar sah Inés der Schwester ähnlich, doch hatte sie im Gegensatz zu Alix` dunklem glatten Haar, solches, das spröde, kaum zu bändigen und obendrein rot wie Mohn war. Dann der elende Schluckauf, der sie so oft plagte, und diese Sommersprossen … Inés betastete ihre Wangen und schüttelte ärgerlich den Kopf. Da betupfte sie sie jeden Morgen mit geweihtem Osterwasser und jetzt setzte sie sich mitten in die Sonne! Aber es war sowieso alles für die Katz! Das war jedenfalls Alix` Meinung gewesen, denn die Schwester hatte nur schallend gelacht, als die dicke Blanche die Sommersprossen „versegnet“ hatte. „Die Mutter Gottes ging über einen grünen Steg“, hatte Blanche dabei geflüstert, „und traf auf drei Kräutlein. Das eine pflückte sie mit der rechten Hand, das andere trat sie mit dem linken Fuß und das dritte ging verloren, ich weiß nicht wohin.“ Mit ihren schwieligen Fingern hatte sie die Sommersprossen betastet und mehrmals wiederholt: „Ich weiß nicht wohin … Begebt euch rasch an diesen verschwiegenen Ort, aber nicht durch meine, meine, meine, sondern durch des Herrn Jesu Hilfe, sowie die aller Heiligen!“
Ja, alles für die Katz! Die Sommersprossen waren noch immer da. Nur Alix war weg.
Erneut schüttelte Inés den Kopf. Dann erhob sie sich und schlenderte in die große Küche hinein. Von den mit einem Firnis von Ruß geschwärzten Balken hingen nicht nur Kessel und eiserne Töpfe an Hakenketten herunter, sondern auch Dutzende Büschel mit getrockneten Kräutern. Lavendel, Kamille, Minze, blauer Ysop, Rosmarin, Thymian, ja sogar Zitronenmelisse, von den Muselmanen ins Land gebracht.
Alle Sträuße gesammelt von der guten Blanche. Wenn wenigstens sie noch hier wäre!
Inés winkte den Küchenjungen zu. Der bleiche häutete gerade einen Hasen ab. Der andere, rotwangige, stand mit dem Blasbalg in der Hand bei der mit Bruchsteinen gemauerten neuen Esse. Aufmerksam sah sich das Mädchen um. Ungespülte Tiegel und Schüsseln! Inés` ausgeprägter Ordnungssinn drängte sie dazu, Hand anzulegen, doch die Mutter hatte es ihr verboten. Auf dem Feuer dampfte und brodelte es in den Töpfen. Es roch nach Hühnersuppe, Kohl und Rübchen. Petrus, ein schmächtiger Mann mit tief eingekerbten Falten im Gesicht, schnitzelte Äpfel. Erstaunt hob er die Brauen, als er Inés gewahr wurde. Er könne gar nicht verstehen, spottete er sacht, weshalb sie noch nicht kugelrund sei von all dem Hirsebrei, den sie hier immer heimlich aß. Dann zog er einen der Töpfe zu sich heran, kostete mit dem Finger und klatschte eine Kelle voll in eine der hölzernen Schüsseln, an denen noch ein Rest vom Vortag klebte. Inés stocherte unlustig im Brei herum. Da fiel ihr Blick wie zufällig auf die alte Berte, die im Turm jedermann nur „Mütterchen“ rief. Neben einem Korb voller bunter Hühnerfedern hockte sie am Boden und schnarchte, so dass sich die obenauf liegenden Federn bei jedem Atemstoß bewegten. Die Haube auf die Nase gerutscht, umklammerte sie mit den Händen ein schmutziges Leintuch. Ihr mit Fettflecken übersätes Gewand hatte sie, der Hitze wegen, ein Stück hochgerafft, so dass man ihre nackten gichtgeplagten Füße sah. Ihre Füße?
Inés stieß einen Schrei aus.
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