Alix ... : Historischer Roman (German Edition)
überragen schien, was in dieser Stadt je gebaut worden war. Der sechsstöckige massive Bergfried, flankiert von vier runden Türmen, stand auf einem Hügel - und war bei weitem eindrucksvoller als die beiden Kuppeln der Kathedrale Saint-Etienne, die ihr Rashid zuvor gezeigt hatte; auch um vieles größer und wuchtiger als der Turm von Montpellier. Ein tiefer Ringgraben, der das bischöfliche Gelände umgab, schnitt, wie ihr Rashid erklärte, die Stadt in zwei Hälften: Eine Festung in der Festung, wie man sich das auch von Carcassonne erzählte!
Wie sollte sie je von hier fliehen?
Vor einer weiteren Barbakane hielten sie an. Unter Knirschen und Rattern wurde die Zugbrücke herabgelassen. Sie ritten über den Graben und kamen bald darauf zu einer mit hochstehenden halbrunden Steinen gepflasterten Rampe, die über mehrere terrassenförmige Abschnitte nach oben führte. Auf diese Weise gelangten sie in einen seitlich gelegenen Innenhof, im dem sich offenbar die Pferdeställe, Wirtschaftsräume und Wohnquartiere der Bediensteten befanden. Knechte sprangen herbei, andere setzten bereits Fackeln auf, um den Hof zu erleuchten.
Mit wackligen Beinen stieg Alix aus der Sänfte. Sofort geriet ihr ein übler Geruch in die Nase; kein Aas- und auch kein Dunggestank, wie er von Pferde- oder Schafställen ausging, oder von Fässern mit Abfällen für die Schweine - es war etwas anderes. Wie konnte man hier nur vornehme Gäste empfangen! Kein Wunder, dass es in Cahors drunter und drüber ging, dachte Alix boshaft, wenn sich der Herr dieser Stadt ständig in der Kemenate der Mutter in Montpellier aufhielt! Sie schüttelte sich angewidert und hielt sich den Saum ihres Umhangs vor die Nase. Dann wartete sie, wartete ... Wollte sie denn niemand hinauf in den Turm bitten? Wo war der Bischof?
Im Hof herrschte noch immer ein ziemliches Durcheinander. Pferde wurden weggeführt, Pagen und Knechte legten geräuschvoll die Sänfte ein, zogen verschnürte Bündel, Kisten und Truhen über das Pflaster, schleppten schwer an ledernen Packtaschen. Hunde bellten aufgeregt, Pferde wieherten.
Irgendjemand ... spielte auf einer Flöte!
Alix neigte den Kopf, um herauszufinden, aus welcher Richtung die Musik kam. Da mischte sich unter die zarten Töne ein merkwürdiges Stöhnen. Alix beobachtete, wie einer der Soldaten, der sie bewachte, ebenfalls stutzig wurde, und sie erkühnte sich, ihn zu fragen. Der junge Mann zog die Brauen hoch, sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, dann drückte er ihr seine Fackel in die Hand und deutete hinüber zur Mauer, wo sich wild neben- und übereinandergestapelt etliche Kisten befanden.
Vorsichtig trat Alix näher. Die Flötentöne wurden lauter, das Stöhnen nahm zu.
Als der Lichtschein der Fackel ausreichte, um den mysteriösen Ort in Augenschein zu nehmen, wurde Alix blass. Die roh zusammengezimmerten Kästen waren auf einer Seite vergittert. Dahinter lagen halbnackte, vor Schmutz und Kot starrende menschliche Leiber, die Schädel kahl geschoren. Allerlei Geschmeiß hatte sich auf ihren schwärenden Wunden, halb abgefaulten Nasen und Brüsten niedergelassen. Kaum ein Mensch befand sich darunter, der nicht schwer gezeichnet war. Der Anblick von so viel Elend war kaum zu ertragen.
Jedes Mal, wenn das Licht der Fackel die Gesichter der Gefangenen streifte, verstummte das Stöhnen und Wimmern für eine Weile. Einer hustete trocken. Alix konnte nicht erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, denn die Gestalt war bis zum Skelett abgemagert. Ein dünner Arm wurde durch das Gitter gestreckt, eine heisere Stimme rief: „So helft uns doch, um Christi Willen, helft uns!“
„Gisti Will …, Gisti Will!“ Erst jetzt wurde Alix auf einen kleinen buckligen Kerl mit dickem Bauch aufmerksam, der, eine Flöte in den Händen, vor den Gefangenen im Dreck kniete. Als er Alix gewahr wurde, lachte er keckernd auf und rutschte auf seinen Knien zu ihr herüber.
„Bossu, Bossu“, rief er ihr zu, so als ob er auf seinen gewaltigen Buckel auch noch aufmerksam machen wollte. Das Hemd, das er über orientalischen Hosen trug, die an den Knöcheln zusammengebunden waren, war irgendwann einmal weiß gewesen. Lachend bleckte er ihr winzige, jedoch regelmäßige Zähne entgegen und griff dann, vielleicht weil sie nur stumm da stand, ohne jede Vorwarnung nach ihrem Gewand, um sie zu sich hinunterzuziehen.
Endlich wachte Alix aus ihrer Erstarrung auf. „Lass mich los, Elender“, schrie sie und befreite sich mit
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