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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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zu Nutz und Frommen der Menschheit errichtet, in der jede Lust als Sabotage angesehen und sogar die Lust zum Guten nußknackerisch mitzermalmt wurde. Ein einziges Mal mußte Kant erleben, daß ihm sein pedantisch geordnetes Leben zum Saustall geriet: er hatte sich in einem Buch von Rousseau festgelesen. Danach war er praktisch für Stunden nicht mehr zu gebrauchen.
    Ein moralisches Gesetz so rigoros wie Kants Kategorischer Imperativ läßt sich leicht verkünden, wenn dem Leben so dramatische Schicksalsschläge drohen wie etwa ein Loch im Morgenmantel. Wenngleich, wie Diderot uns lehrt, dies ein ziemliches Unglück sein kann. Diderots Nekrolog auf seinen geliebten alten Schlafrock: wen ergreift das nicht? Auch Schlafröcke sterben. Und dann schämt man sich, weil man den alten Freund nicht immer gut behandelt hat. Und dann verfällt man dem Kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ – Aber dieser Satz ist wie ein Zimmer ohne Möbel, ohne jegliche Einrichtung. Gewiß, man kann sagen, es beißt sich nichts darin. Man kann aber auch fragen, wo ist das Zimmer? Was war es denn mit Kant? Was war das für ein nasser Fleck da auf dem Schreibtisch Kants?
    In seinen vier Wänden angelangt benötigte Aljoscha dringend einen Energieschub: gut, daß er aus Musik Energie aufnehmen konnte, als wären Töne Kalorien; zur Not funktionierte das Kopfhörerkabel wie ein Infusionsschlauch. Der Mann der Stunde war Nick Cave, ehedem Sänger der Birthday Party, einer Combo, die so klang wie der eiskalte Samen des Teufels sich anfühlen mußte. Cave zog durch seine Texte wie ein Wanderprediger mit Dreck am Stecken zwischen Sumpfland, Strumpfband und Altem Testament. Sein Spießgeselle war jetzt nicht mehr der seltsame Rowland S. Howard, der mit seinen weinenwollenden großen Augen wirkte wie ein im Cabinet des Dr. Caligari Vergessener und von dessen Gitarre Georg Büchner sagte, daß sie wie ein offenes Rasiermesser durch die Gegend lief (man schnitt sich an ihr), sondern Blixa Bargeld, dessen luziferisches Gebrodel über Caves Lieder kroch wie eine Tarantel übers Bett. Kicking Against The Pricks und Your Funeral, My Trial von Nick Cave schärften den Sinn für die manische Unschuld der Obsession.
    Mann der Stunde war auch James Osterberg. Dieser legendäre Vortragskünstler, der unter dem Namen Iggy Pop die Weltbühne bestiegen hatte, um halsbrecherisch und doch graziös auf der Demarkationslinie zwischen Exzeß und Exitus zu balancieren wie eine russische Kunstturnerin auf dem Schwebebalken und der unter Russen nicht nur deshalb überaus angesehen war, weil eines seiner Werke denselben Titel trug wie ein Roman von Dostojewski, hatte unter dem Einfluß und dem Bowietum seines Busenfreundes David Bowie eine verzweifelt schöne Platte zustande gebracht, die an allen Ecken und Enden knallte, tuckerte, puckerte, hochging und Spektakel machte, eine Platte, in die der Mann, wie man so sagt, alles reingeworfen hatte außer der Küchenspüle, die aber unfaßbar grandiose zärtliche Momente hatte, die einen so schwach werden ließen, daß man keinem Pudding mehr die Haut abziehen konnte. Aber Schwäche dieser Art ließ sich umsetzen in Stärke. Blah Blah Blah. So hieß die Platte.
    Dieses und anderes sammelte Aljoscha in der Nacht auf einer Cassette, und er legte frische Batterien in seinen Sony Walkman. Denn dieser kommende Tag – Dienstag, 18. November – war auch eine Frage der Energiezufuhr.

14
    Am frühen Morgen schnitt Aljoscha sich voller Energie beim Rasieren ins Ohr.
    Als er im philosophischen Seminar Sterben und Tod neben seinem Kommilitonen Oleg Platz genommen und mit diesem einige Bemerkungen ausgetauscht hatte über holländische Maler, die sich die Ohren abschnitten, fühlte sich Aljoscha wie eine homerische Gestalt, der vom Dichter eine kurze Frist gegönnt wird, bevor sie zurückzukehren hat in die ihr selbst völlig undeutliche Ordnung der epischen Welt. Je näher die Uhrzeiger der 11 rückten, um so ruheloser rückte Aljoscha auf seinem Stuhl herum. Im Handumdrehen war es dann endlich soweit. Dawai, dawai! Wie Nosferatu durch Wisborg huschte Aljoscha im langen schwarzen Mantel über den Campus, Poussin entgegen, atemlos erreichte er das Hauptgebäude und wehte in den Hörsaal C. Mit einem raschen Seitenblick hatte er das Wesentliche erfaßt. Er suchte seinen alten Rembrandt-Platz, ließ sich fallen und schloß die Augen.
    SIE

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