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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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Erinnerung auspumpt, lasse ich nicht zu. Und ich habe ein paar Masken neben meinem Spiegel liegen. Wenn man es einmal gelernt hat, ist es ein Kinderspiel, den Menschen eine Fassade zu bieten, damit sie dich in Ruhe lassen mit ihren entsetzlich dummen Fragen. Das Innere – was geht’s andere an. Meine Haut und meine Hände werden nie vergessen. Das Leben geht weiter, sagen mir die Menschen, und ich dachte oft, bornierte Schlauheit, ist ja umwerfend. Aber es ist meine einzige Rettung, dem Leben beim Weitergehen zu helfen. Alles ist in Bewegung. Und Bewegung – ist alles.“
    Und so goß selbst Marja, die Aljoschas Sorgen Unfug nannte, Gasolin ins Feuer. Alles in Bewegung. Sogar die Sphinx. Sogar die Sphinx hat sich bewegt.
    Eine neue Zeitrechnung hielt Einzug in Aljoschas Leben. Eine Zeitrechnung von Dienstag zu Dienstag.
    Als Aljoscha am Donnerstag mit der Metro zur Universität fuhr, sah er beim Halt in Dobropol mit aufgerissenen Augen aus dem Fenster. Vor 48 Stunden war SIE hier ausgestiegen: Neubauten zur Rechten, Einfamilienhäuser links. Eine Atmosphäre von Verlassenheit und Öde über allem, mitten in der Großstadt. Ein Quartier, durch das drei Monate alte Zeitungen wehten. Vielleicht waren die fragwürdigen Tendenzen, die den fahlen Lichtschein scheuen, hier nicht fragwürdiger als anderswo, vielleicht war die finstere Tätigkeit, die Schuldlast mehrt, hier nicht finsterer als anderswo, vielleicht brach sich hier in kalter Nacht der Wind an der zum Umpusten ausgemergelten Gestalt eines einsamen Stromers, vor dem sich die Betonburg wie eine Gewitterwand auftürmte. Aber derKlang IHRER Absätze hier… was fängt die Einbildungskraft damit an? Hatte SIE hier IHRE Wohnung? Oder ein ganz anderes Ziel?
    Freitag. Aljoscha sprach seit einer guten Stunde am Telephon mit Leda, als ihm, Schuß ins Auge, plötzlich aufging, daß das wahre Leben schon woanders war. Er selbst war längst woanders. Auf der anderen Seite des Spiegels. Es war möglich: er konnte der Welt das Spiegelbild jener Geschichte zeigen, die sich eben zutrug an der Oberfläche, doch diese Geschichte war für ihn wie Tarnung. In der Welt hinter dem Spiegel schaute er sich um mit angespannter Wachsamkeit, ein Spion durch Transition, im Hinter-Land der Wirklichkeit.
    Am Sonnabend war Dienstag vier Tage her.
    Am Sonntag fuhren Leda und Aljoscha aus der Stadt heraus, ließen den Wagen in der Nähe eines Schloßparks stehen und wanderten in den Nebel, den die Dämmerung brachte. Krähen stiegen auf, und in der Ferne bellte heiser und unermüdlich ein Hund. Aljoscha erwartete noch ein Rudel Wölfe und eine Pokerrunde Moorleichen.
    „Ich weiß genau, wenn wir erst zusammen wohnen, wird alles einfacher“, sagte Leda und umschlang ihn fester. „Nicht wahr, das glaubst du doch auch? Aljoscha?“
    „Manches“, sagte er. „Nicht alles. Manches ist entweder da, oder es ist nicht da. Und wenn es jetzt nicht da ist, wird es nie da sein.“ Er ging weiter, als würde Leda ihn nicht fester umschlingen. „Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich sagte: wenn du mich wirklich willst, dann bekommst du mich restlos, aber bedenke, daß ich dich genauso restlos will –?“
    „Natürlich erinnere ich mich, warum?“
    „Wir hatten uns nie restlos, oder?“
    Leda ließ ihn los. „Ich empfinde nicht so, nicht im mindesten, und ich weiß auch nicht, warum du immer so grundsätzlich wirst!“
    Sie überquerten eine Holzbrücke. Herabgefallenes Laub bedeckte den Wassergraben wie eine gemusterte Decke. Ein paar Untote schwebten grinsend vorbei.
    „Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich sagte: ich verfluche jede Stunde, in der ich nicht weiß, was du fühlst, und wenn du das nicht mehr ertragen kannst, werde ich dich auf andere Weise lieben…und dich dabei verlieren –?“
    „Jetzt aber genug davon! Wenn das dich quält – nun, dann sollten wir gleich morgen damit anfangen, eine Wohnung zu suchen! Ich erinneremich nämlich auch daran, daß du einmal sagtest, du würdest erst zufrieden sein, wenn du Tag und Nacht mit mir zusammen bist!“
    „Klang wie eine Drohung, was?“
    „Nein, das klang sehr schön!“
    Sie erreichten das Rondeau, auf dem einst Vierspänner zum Stehen gekommen waren, und Aljoscha betrachtete die wenigen erleuchteten Fenster des Herrenhauses wehmütig wie einer, der Wache halten muß die ganze Nacht und seine klammen Runden macht im Schmatzen nasser Erde.
    Wenn man es pragmatisch sah, hatte Leda recht: lebten sie erst einmal zusammen, würden

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