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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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und sie sagte, Herr, du hast nichts, womit du schöpfest und der Brunnen ist tief).
    Aljoscha beeilte sich. Er hielt einfach mit der Menge Schritt, die es fast immer eilig hat, bei Kälte ganz besonders. Seinetwegen hätte die Menge auch anfangen können, zur Damtorsk-Station zu traben oder zu hopsen, er hätte alles mitgemacht, was seine Hochspannung ein wenig gelöst hätte. Andererseits durfte er das Schicksal auch nicht zu sehr herausfordern. Er und mit ihm alles andere mußte den normalsten Gang gehen. Wenn nur keine Hexe hinter ihm war! Russische Hexen gehen nämlich hinter ihrem Opfer her und imitieren seinen Gang; wenn Hexengang und Opfergang in völliger Übereinstimmung sind, läßt sich die Hexe fallen…
    Aljoscha wünschte sich 360°-Augen. Er wünschte sich genau dorthin, wohin seine Füße ihn jetzt trugen, und zugleich wünschte er sich weit, weit fort. Er hörte die Musik, die sich wie von selbst zusammengestellt hatte zu einer Art von Liturgie.
    Als er den Bahnsteig erreichte, sah er die Metro nach Putjagora auf dem Gleis stehen. Noch waren die Türen geöffnet. Noch konnte er in den Zug springen.
    SOMEONE FETCH A PRIEST
    War SIE da drin, in diesem Zug? Oder war SIE noch auf dem Weg zum Bahnhof?
    YOU CAN’T SAY NO TO THE BEAUTY AND THE BEAST
    Wirbelndes Schicksalsrad! Wirbelndes Schicksalsrad! Laß mich zwischen deine Speichen für eine Sekunde der Wahl!
    Nein. Nicht dieser Zug.
    Das Zeichen zur Abfahrt! Die Türen schlossen sich, die Metro fuhr dahin. Aljoscha lehnte sich an den Betonwall, der vor dem Fall auf die Rolltreppe schützte. Im Bahnhof Damtorsk fuhr man mit der Rolltreppe zu den Bahnsteigen hinauf, und Aljoscha observierte den Menschenstrom, der da ankam, so gut man das vermag, wenn man zugleich den Eindruck panoramischen Desinteresses zu erwecken versucht.
    Stundenlang vergingen einige Minuten, untermalt von Klängen und Gesängen aus Schwarzafrika, zu denen der Trommler Stewart Copeland seine eigenen Rhythmen beisteuerte. Plötzlich nahm auch die Realzeit einen Rhythmuswechsel vor.
    Eine Aureole schien SIE zu umgeben, weil SIE die Langerwartete war. Noch konnte er IHR Gesicht nicht sehen. Er erkannte SIE an der hohen Gestalt und an der 40er-Jahre-Thriller-Frisur. SIE trug einen langen Wintermantel. Russischgrün. Sehr tiefes Grün. Als SIE von der Rolltreppe auf den Bahnsteig trat, war Aljoscha schon wieder eine Allegorie der Indifferenz.
    Zu seiner Linken stand ein Mann mit Pepitahut, der die Abendzeitung hochhielt. Die Metro nach Belonosko fuhr ein. Der Pepitahut faltete die Abendzeitung und stieg ein. Die Metro nach Belonosko fuhr ab.Und SIE stand neben ihm. Nicht zu nah. Diskret. Vielleicht zwei Meter entfernt. Doch eindeutig neben ihm. Allmächtiger. Dies war kein Zufall mehr. Dies war – Schibboleth. Kabbala. Geheimlehre. Was es auch war, es galt ihm. Stewart Copeland wechselte erneut den Rhythmus, und sein Dunkler-Kontinent-Expeditions-Gerede
    IN MOST TROPICAL ZONES THE AIR IS ALIVE
    WITH INSECTS BUZZING AND SCRATCHING
    paßte dazu, daß der Boden unter Aljoschas Sohlen plötzlich sengend heiß schien. Bzzz, bzzz! Als hätte ein verrückter Moskito ihn erwischt, fühlte sich Aljoscha plötzlich fiebrig… irgendein satanisches Gift jagte russischgrün durch seine Adern… er drehte sich hin und er drehte sich her, nur nicht zu IHR, und noch immer zwängte er lachhaftes Unbeteiligtsein in seine Attitüde.
    THERE’S A PATTERN HERE, SEE
    AND THE POINT WILL SOON BE CLEAR TO ME
    Jawohl! Stewart Copelands Kommuniqué lautete, daß hier ein Muster vorlag, dessen Entschlüsselung nur noch eine Frage der Zeit war. Oder des Standpunkts. War Copeland ein Prophet? Sprach er mit Zungen? Oder mit gespaltener Zunge? Die Weisen und die Narren, gespannt vor einen Karren. Und wenn SIE jetzt zu ihm spräche? Was geschieht, ist zuvor geschehen. Kommuniqué von Salomo dem Prediger.
    Reise über 1000 Meilen. Man muß das Große tun, solange es noch klein ist. Aljoscha sah auf zum schwachvioletten Winterhimmel. Dann wandte er langsam den Kopf nach links, einen ganzen Berg dabei verschiebend. Er verschob den Fujiyama. Er verschob Uralgebirge und Himalaya.
    Ganz zweifellos bemerkte SIE, daß er SIE ansah jetzt, doch SIE reagierte nicht sofort. SIE ließ erst noch ein paar Planeten aus der Bahn torkeln. Dann bewegte sich IHR Blick unaufhaltsam auf ihn zu.
    Es war, als hätte man ein Tier geblendet mit einer Schönheit, die es nicht verstand. Vor mehr als einem halben Jahr hatte Aljoscha SIE zum ersten

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