Alkor - Tagebuch 1989

Silvesterrakete.
    Wenn ich Fliegen klatsche, geht der Munterhund weg. Besser ist besser, denkt er. Dabei ist das doch auch für ihn von Vorteil.
    Langes Gespräch mit KF. Er wohnt jetzt in Kreuzberg. Er mag die Türken gern, sagt er. Das wären liebe Leute.
    Dorfroman: Ein Igel lief durchs Zimmer, eine der Hennen legt nur noch in der Halle, in den Papierkorb ihre Eier. - Der Igel scheuchte die Henne aus ihrer Hütte, langes Zureden, daß sie wieder hineingeht. An sich lassen sich diese Tiere nicht umstimmen.
    Langweiligste Post, Rechnungen. Das Anbringen der Bank in der Laube kostet über 1000 Mark. Nie wird jemand darauf sitzen.
    Aber es sieht schön aus. Jetzt müßten noch Rosen am Gitter emporranken. Hildegard hat innen, umlaufend, den Goethe-Spruch anbringen lassen:
    Selig
wer sich vor der Welt
ohne Haß
verschließt …
    Für einen Dichter ist die Laube wie geschaffen. Der Blick über die ungemähte Wiese mit den Schafen, ein paar Schmetterlinge, da drüben das Haus … Müßte noch eine Blumenschale auf dem
Tisch stehen mit Astern. Und Besucher müßten her, wie es sie auf der ganzen Welt nicht gibt. Nachdenkliche Greise, geistreiche Frauen, tief einatmend, daß der Busen sich hebt … Ihrer kleinen Tochter rufen sie zu: Lauf nicht so weit weg! - Über meine wundervollen Romane müßten wir sprechen, Stunde um Stunde. So viele Stunden, wie ich daran geschrieben habe. Hab’ meine Großbriefe ausgesendet und nur kärgliche Antwort erhalten.
    «Was ist das für eine Hunderasse?»- auf eine solche Frage laufen Besuche hinaus. Und immer vergessen sie Kuchen mitzubringen.
    Vor einigen Wochen meldete sich ein Besucher aus Mexiko an. Ein sogenannter Schulkamerad, der die Petrikirche nicht von St. Jakobi unterscheiden kann. So was ist absoluter Horror. Er ist jetzt in Hannover und möchte gern mal für ein paar Stunden herüberkommen … Ich schrieb ihm, ich hätte aber nicht endlos Zeit für ihn, das müsse er bedenken. Da verzichtete er. Tat mir leid, die Sache.

Nartum
Di 8. August 1989
    Bild: Honecker schlägt zu/2500 Flüchtlinge im Gefängnis/ Ausreise erschwert/Bonn schließt ständige Vertretung in OstBerlin - schon 130 drin/DDR-Anwalt Vogel darf nicht mehr helfen
    ND: Welthandelsplatz Leipzig erwartet 6000 Aussteller/Parlamentariergruppe aus den USA in Truppenteil der NVA
     
    Hamburg, bei Anwalt Kersten, Archiv-Sinnlosigkeiten. Es ist ein Tasten ins Leere. Daß sich niemand ernstlich für meine Manuskripte interessiert, schmerzt mich nicht. Ich freue mich insgeheim auf die Zeiten, in denen sie dann Schlange stehen. Daß diese Zeiten vielleicht nie kommen, ist eine ganz andere Sache. Vielleicht ist das ein Fall für eine böse Witwe (oder für den Psychiater).
Sie rächt sich dann dafür, daß sie mein Gemaule aushalten mußte, ein Leben lang.
    Fotokopien (farbig): 67 Mark!
    Ich kaufte bei Steinway die Sinfonien von Schostakowitsch: 355 Mark! Die«Ernte-Ode»ist nirgends zu kriegen.
    Ich hörte einen Ausschnitt der Hitler-Rede an, in der der«Führer»davon spricht, daß er Stalingrad nicht mit einer Armee, sondern mit einem Stoßtrupp nehmen will. Das Männerlachen der Zuhörer.
    Ich habe ausgerechnet, daß das kollektive Tagebuch (Kolbe:«Schlechter Untertitel») über die vorgesehenen sechs Jahre etwa 5000 Seiten umfassen müßte, also, daß es gar nicht zu realisieren ist. Allein die Korrekturgänge würden unlösbare Probleme aufwerfen. - Im übrigen sitze ich den ganzen Tag vorm Computer. Das ist mein einziger«Helfersmann». Die Faszination läßt nicht nach.
    Bienek im FAZ-Fragebogen: Er schätzt«die führenden Köpfe der Solidarnosc-Gewerkschaft»am meisten.
    Ich wundere mich darüber, daß die Leute so einfallslos sind beim Beantworten der Fragen. Lieblingskomponist:«Beethoven». Liebhaberei ist doch diskreter, da müßte man also sagen: Hugo Wolff oder Orlando di Lasso. Beethoven versteht sich doch von selbst.

Nartum
Mi 9. August 1989
    Bild: Wegen 2,10 Mark - Schwarzfahrer zog Bajonett /3 Tote, 4 Schwerverletzte
    ND: FDJ-Aktiv der Oberschulen tagte am Werbellinsee
     
    Große Hitze. Ich lag zeitweilig jappend auf dem Bett. Das«Schöne»dieses Wetters ist Vorbote des Weltuntergangs; nicht wie bei Doré wird es kommen, die Sonne wird uns versengen. Bei 350 Milliarden Tonnen Wasser auf der Erde (durchschnittlich 2,7 Kilometer tief ist das Meer) schwer zu glauben.

    Wir saßen im Innenhof. Noch um Mitternacht waren es 25 Grad. Ich schnitt Passepartouts, um mich etwas abzulenken. - Fand mich dann