Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
in die SU und in Polen eingewandert sind.
    Augstein im«Spiegel»:
    Wer nach Ethik und Moral der weniger Schlimme war (Hitler oder Stalin), läßt sich nicht ausmachen. Beide begingen die ungeheuerlichsten Verbrechen.
    Das ist zwar nicht neu, aber daß jemand Hitler und Stalin ohne weiteres gleichsetzt, haben wir so noch nicht gelesen.
    Hildegard telefoniert herum wegen der Krähen, die immer noch ans Fenster klopfen. Auch der Mehltau an den Trauben macht ihr zu schaffen. Sie wundert sich über die zunächst nicht vorhandenen, dann überaus zahlreichen Umweltberater in Bremen, was es da für verschiedene Einrichtungen gibt. Sie meint, der eine habe besoffen auf dem Sofa gelegen. Von einer anderen habe es geheißen, sie sei gerade zum Mittag gegangen. Und alle sagten was anderes.
    «Was haben Sie für große Hühner!»- Hühner in hohem Gras, das ist etwas besonderes.
    Aus einem Brief:
    Was ich suche, sind Kreise, in die ich das«Selbst»steinlichtgrau hineintauchen darf und sie weitertragend in Tönen als lebendige Worte zum Schwingen bringen kann. Leider habe ich noch keinen Weg gefunden, Gefühle zu entfalten, die als Lichtboten das Leben erhellen …
    Mann oder Frau?

Nartum
Mo 14. August 1989
    Bild: Verzweiflung in der DDR / Nur raus, raus, raus!
    ND: Wanderfahnen für beste Leistungen im Wettbewerb
     
    Was die Flucht unserer Landsleute angeht: Es ist so, als ob man ein Loch in einen Kahn bohrt, da dringt dann das Wasser ein, und der Kahn sinkt. Aber das Bild ist schief, da müßten wir ja sinken. Eher ein Fahrradreifen, der… - Es ist allerhand nachzutragen.
    Gestern TV:«Das Rettungsboot»von Hitchcock, ein mieser Propagandastreifen. Man müßte mal einen Film drehen, in dem man dieses Prinzip ins Groteske wendet und alle Ausländer als Halbschweine darstellt- sozusagen ein für allemal, und den Deutschen dazwischen als Leuchtstoffröhre. - Hübsch die Szene, wie sie ihn über Bord drängen. Primitive Kulissenartigkeit des Ozeans.
    Es wurde der gelbliche, angenehm an Bierhefe erinnernde Algengrützteppich an der italienischen Küste gezeigt, wie er von einsamen Kämpfern mit Schiebevorrichtungen vom Strand weggezogen wird. Mit Ölteppichen verfährt man auch so. Warum sie das Zeug nicht an Vieh verfüttern, bleibt rätselhaft. - Dann wurden zufriedene italienische Rentner gezeigt, die sich freuen, daß die Deutschen nicht mehr kommen, und Papagalli an Kraftmaschinen, die endlich von den Bumsungen entlastet sind. Nur noch 48 deutsche Frauen müßten sie jetzt umlegen statt 64, sagte einer (pro Tag?). Man geht jetzt dazu über, parallel zum Strand Schwimmpools einzurichten. In die wird dann Tag und Nacht hineingepißt.
    Hauptthema auf allen Kanälen: DDR-Flüchtlinge, meist junge Leute, alerte Typen, die zu Recht optimistisch sind. Die Journalisten geben sich alle Mühe, ihnen nagende Zweifel einzupflanzen.«Meinen Sie, daß das richtig war?»- Das Turnhallen-Dasein wird so dargestellt, als ob es die Flüchtlinge jahrelang auf sich nehmen müßten. Es sind, wie man so nebenbei erfährt, man eben drei Tage. Ein älterer Herr gab als Fluchtgrund an, daß seine
Tochter einen Autounfall gehabt habe. Da wär’«der Tropfen am Überlaufen»gewesen.
    Jammerschade, daß ich keine Zeit habe, nach Gießen zu reisen und mit den Leuten zu reden. Simone:«Was willst du mit denen reden?»-«Na, Mut machen …»-An den Bäumen und Zäunen flattern Arbeitsangebote, Dachdecker werden gesucht, war zu hören. Westdeutsche Arbeiter haben schon protestiert.
    Drei Tage hatte ich wieder mit meinem Leibschneiden zu tun, das Gehirn ist dann ganz abgeschaltet. Ich trage es mit Geduld und einer Wärmflasche auf dem Bauch.
    Heute fuhren wir nach Sottrum zum Brotkaufen und standen vor verschlossener Tür. Betriebsferien. Simone las mir den Juli -«Sirius»-vor, und ich erfreute mich an ihren gutgelaunten Reaktionen. Überall wird geerntet, die Strohballen werden durch Schleudern auf die Wagen geschmissen, quasi über die Schulter, Tschipp macht’s, und dann kommt wieder so’n Ding geflogen. Manchmal fallen sie auch runter. Dann ruft der Mensch, der auf dem Anhänger steht, dem Fahrer zu:«Hö! Hö!»
    Als wir 1960 nach Breddorf kamen, wurden die Felder noch auf alte Art abgeerntet, mit Hocken, Hochstaken usw.
    Im Herbst hab’ ich manchmal hinter der Gardine gestanden und den Kartoffelsammlern zugesehen, die holte sich der Bauer von überall zusammen. Das ist übrigens sehr anstrengend. Hinzu kommt, daß es im Herbst ja meist regnet,

Weitere Kostenlose Bücher