Alkor - Tagebuch 1989
Riesen-Scheune, die im wesentlichen aus Holzkonstruktion und Dach bestand, saß eine eingestimmte Menschenmenge. Eine indische Pianistin hämmerte wie rasend auf den Flügel ein. Ich kann nicht verstehen, daß man das«forte»in eine Lautstärke hineintreibt, die keinerlei Nuancierung mehr erlaubt. Dieses Geknalle sagt nichts mehr aus.
Ich durfte drei Kapitel aus M/B lesen, die ich vorher noch etwas gekürzt hatte. Dazu gab es ein sehr schönes Schostakowitsch-Trio. Der Applaus war freundlicher, als es bei Musik-Enthusiasten zu erwarten gewesen war.-Das sei aber ein ziemlicher Block gewesen, sagte der Veranstalter hinterher (es war wohl doch ein bißchen zu lang). Ansonsten saß ich in einem Aufenthaltsraum bei Kaffee und Kuchen und kämpfte gegen die Wespen. - Ein blondes Kind sprach mich an, wie sie es anstellen kann, daß sie Schriftstellerin wird. Hätte schon drei Bücher geschrieben (zehn Jahre!).
Auf der Rückreise las Simone mir das sehr lange Juni-Kapitel aus dem«Sirius»vor. Es befriedigte mich nun doch. Das wäre dann mal wieder eines dieser unerwarteten Geschenke. Innerlich lange vorbereitet, ohne daß ich es gemerkt habe. Das Herausgeben der Tagebücher: Eine angenehme Beschäftigung für die nächsten fünf Jahre.
Hildegard begießt die Blumen. Für wen? Für sich? Für mich? Für die Blumen tut sie es. Damit sie uns erfreuen.
Morgens Frühstück auf der Galerie. Die Hühner lagern sich vor der Glastür. Sie suchen unsere Nähe. Was für ein Leben muß es gewesen sein in den alten Niedersachsenhäusern, Bauer und Gesinde mit dem Vieh unter einem Dach. Nachts macht der Bauer die Klappe auf, das Fensterchen in seiner Butze, und sieht in den Stall hinein und horcht. Die atmende Kreatur.
Tiertransporte, so ist zu hören, dauern oft zwei volle Tage! Die Rinder stehen dicht gedrängt, ohne Wasser und Fressen. Ich hasse diese Sadisten.
Als Kinder verbanden wir mit dem Jahr 2000 Visionen von Städten mit Rollbändern als Gehsteig. Von Hans Dominik angeregt, sahen wir Europa von Riesen-Eisenbahnen durchrast, die mit Atom-Motoren angetrieben wurden. Ganz selbstverständlich war uns der Gedanke, daß wir mit Raketen nach Amerika geschossen würden, und die Kleidung, die wir tragen würden, könnte Weltraumanzügen ähnlich sein. Wie die Menschheit vor 1000 Jahren annahm, die Welt gehe unter, wenn der Kalender umspringt, so war für uns ein magisches Jahr 2000 ein Schuß in ein,
wenn auch nicht gerade süßes, so doch erstaunliches Paradies, in dem Tod und Krankheit zwar nicht besiegt, so doch aber abwesend waren, Häßlichkeit jedenfalls nicht vorkam: Die Tische biegen sich von südlichem Obst und Braten, und an den Wänden laufen immerfort, auf große Mattscheiben projiziert, Filme, die wir uns, auf weiße Ledersofas hingestreckt, amüsiert und weltvergessen betrachten.
Nun, letzteres ist eingetroffen: Das Fernsehen ist da, wenn es uns auch nicht gerade futuristisch anmutet, sondern eher altmodisch, denn, was uns darin vorgeführt wird, kommt eher antiquiert daher. Es hat von neuem weltgesunden Geist nichts an sich.
Noch elf Jahre bleiben uns. Keine einzige Vision wird Wirklichkeit werden, alles Schlimme jedoch, das wir vielleicht ahnten, trifft wahrscheinlich ein. Nur eines nicht: der Tod der Bücher. Was uns auf der Buchmesse 2000 erwartet, können wir mit Hilfe einer Art Wahrscheinlichkeitsrechnung ziemlich sicher vorhersagen, indem wir uns vor Augen führen, was vor elf Jahren los war in Frankfurt. Von daher ließe sich leicht eine Projektion über die kalendarische Schallgrenze hinweg anstellen.
Nartum
So 13. August 1989
Welt am Sonntag: BND: 1,5 Millionen DDR-Bürger wollen ausreisen/Mittwoch neue Verhandlungsrunde über Ausreisewillige in Bonns Ost-Berliner Vertretung
Sonntag: Rufer der Vernunft.«Man nannte sie Verräter»- zu dem Film des West-Berliner Dokumentaristen Bengt von zur Mühlen
Mal wieder einen Chopin versucht, aber da gibt man denn doch bald auf.
Die Polen (Oppeln) haben einen deutschen Kulturkreis verboten.
Die Studenten wundern sich, daß es in Polen überhaupt noch Deutsche gibt. Sie meinen, Breslau sei eine urpolnische Stadt, immer schon polnisch gewesen, so ungefähr. An sich ist das ja egal, was sie denken, aber mich wurmt ihre Unwissenheit.
Oberschlesien? - Die Leute, die dort wohnten, haben da immer gewohnt, weil das Deutschland war. Schlesien war nie polnisch. Lafontaine spricht davon, man soll nicht die«sogenannten Deutschen»zurückholen, die vor 300 Jahren
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