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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Zustimmung gibt Halt. - Kam mir deutlich gealtert vor, die 300 Berufsschüler in Düsseldorf. Da war ich eben ein Greis, und das, was ich las, kam mir abgestanden, artifiziell, langweilig vor. In dem Maße, in dem ich mich für mein Buch erwärmte, ging auch das Publikum mit, zum Schluß kriegte ich so was wie Ovationen. Das saugend-schraubende Lehrerkollegium erinnerte mich ungut an alte Lehrerzeiten.
    Im Zug herrschte hin (Mittwoch) und zurück (Freitag) ein ziemliches Gedränge. Es ist rätselhaft, wie das kommt. DDR-Leute waren nicht auszumachen. Die Zeitungen sprechen über engstirnige BRD-Bewohner, die guten Aussichten für junge Leute (300 000 Facharbeiterstellen unbesetzt), die knechtische Haltung der DDR-Führung (Axen:«Wir haben die Freiheit verwirklicht. ») und die Dankesschuld gegen die Ungarn (wir haben ja eigentlich noch einen Bonus wegen 1956, als wir ihnen halfen).
    In der SU ist ein Massengrab mit 300 000 Skeletten gefunden worden. In der Nachkriegszeit bis heute sind drei Mio. Bürger aus der Ostzone hierher übergesiedelt, man sagt, daß ihr Wille zum Leben hier das Wirtschaftswunder auslöste, ohne die Facharbeiter aus dem Osten hätte ein Wiederaufbau erheblich länger gedauert. - In diesem Jahr kommen mit Um- und Übersiedlern 500 000, eine Zahl, die ich nicht glauben kann. Diese Greise da drüben, unglaublich. - Was das Wirtschaftswunder angeht, das wirklich ein Wunder war, dazu haben natürlich auch die Ostflüchtlinge und Vertriebenen beigetragen, das wird meistens vergessen.
    Es sind interessante Wochen, ich hänge dauernd am Radio. Habe schon zu Hildegard gesagt, ob wir nicht vielleicht DDR-Kinder aufnehmen. Aber da sagt die Jugendbehörde dann:«Dazu sind Sie zu alt!»
    «Echolot»steht wie eine drohende Mauer, die Investitionen lähmen
mich. An M/B die Lust fast verloren.«Sirius»macht Spaß, aber die gedrosselte Begeisterung im Verlag regt mich auch nicht gerade an. Heute hat Volker Hage kritisch vom Jahrhundert der Ich-Literatur, der Brief- und Tagebuch-Editionen gesprochen, so als sei es nun genug. Die Arbeit am«Echolot»ist wie eine Expedition ins Ungewisse. Ich weiß nur, daß ich es tun muß , und: Die wenigen anfeuernden Worte von Kolbe (damals) und Stölzl entfalten Schubkraft. Sonst schippert man durchs ölige Hafenbecken zwischen Abfall dahin.

Nartum
Sa 16. September 1989
    Bild: Elektriker verhaftet/4 Ehefrauen mit Strom getötet?
    ND: Kulturbund zog zum 40. Jahrestag der DDR eine erfolgreiche Bilanz
     
    Eine Schulklasse war da, die Leutchen waren absolut unvorbereitet, bis auf zwei oder drei hatte keiner was von mir gelesen. Unglaublich. Ich frage mich: Was wollen sie hier? Und: Warum gehe ich immer wieder auf solche Anfragen ein? - Es ist die Kontaktaufnahme zur Menschheit, eine Vergewisserung des Lebendigseins. Und auch eine vage Hoffnung, daß dadurch eine neue Verbindung geschaffen wird, die vielleicht sich irgendwann einmal als fruchtbringend herausstellt? Und dann natürlich: junge Menschen. Wie selten kriegt man sie zu sehen, und wie wenig weiß ich von ihnen. - Wie hat man selbst reagiert, als man alten Menschen gegenüberstand? Wißbegierde setzt Wissen voraus, durch das wird sie provoziert. - Und: Was will ich denn von ihnen wissen? Kann ich so ganz leben ohne ihre Erfahrung? Man fürchtet beim Bücken den Halt zu verlieren. Vielleicht beschert einem ein Gespräch mit Jugend auch einen unerwünschten Blick in die Zukunft?
    Ab und zu nehme ich mir vor, mich von Grund auf zu ändern. Das ist aber mehr ein Änderungswunsch in eine andere Rolle hinein.
Mal eiskalt sein, obwohl man zur Leutseligkeit neigt. Nach den Rollen tasten, die in einem angelegt sind - das ist es.
    TV: Ein Film über das Alban-Berg-Quartett.

Nartum
So 17. September 1989
    Welt am Sonntag: Polens KP beschuldigt die UdSSR massiver Verbrechen/Zum ersten Mal greifen Warschaus Kommunisten den Kreml öffentlich wegen Besetzung Polens an
    Sonntag: Symbol und gelebtes Leben. Horizonte im Müntzerbild. Von Gerhard Brendler
     
    Heute habe ich mich mit dem Tagebuch von Ursula Ehlers beschäftigt, habe es in den’44er Jahrgang eingegeben. Das Auftreffen auf andere Tagebuchaufzeichnungen, wie zwei Kugeln auf dem Billardtisch. - Dierks meint, Biographien seien für Germanisten ganz uninteressant. Das wieder ist mir absolut schnuppe. Ich weiß, daß ich wie die Brüder Grimm weitersammeln werde, ob das die Germanisten nun interessiert oder nicht. Er sagt, daß man Frauen nicht mehr als schön bezeichnen

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