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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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zur Hitler-Hölle als unerhörtes Erlebnis.
    Ich hörte gestern und vorgestern fast stündlich Nachrichten, und ich sah auch TV-Sendungen, die sich mit dem Flüchtlingsstrom befaßten - aber am eindrucksvollsten war der Schwenk über Stoph und Genossen auf der Tribüne -, die sogenannten Geronten. Sie taten mir fast leid. Krolikowski, den seh’ ich mir immer besonders gern an, weiß nicht, was für eine Funktion der hat … die Frisur!
    Ein ausgezeichneter Aufsatz von Karl Otto Hondrick im«Spiegel». Die Lastenausgleichs-Idee für den Osten propagiert er:
    Der Anspruch der kommunistischen Partei, über die Politik das gesellschaftliche Leben zu steuern und auf die zentrale Verfügungsgewalt über Produktionsmittel, besiegelten nicht nur die ökonomische Ineffizienz des Sozialismus, sondern auch sein moralisches Fiasko, das von den Moskauer Prozessen über den Archipel Gulag und die Volksaufstände in Osteuropa bis zu den Massengräbern Pol Pots und den Verheerungen der Kulturrevolution reicht.

    Ja. Und wo bleiben unsere Revolutionäre? Wird sich Bedauern einstellen, Scham? Leider nicht, fürchte ich. Wer Unrecht hat, tut es. Und: Ihre Charaktere sind deformiert. Eine exakt deutsche Charakterverformung. Und in unsere Physiognomie zieht ein etwas debiles Grinsen ein, das schließlich auch keinem nützt. Wer will es hören, daß man Recht gehabt hat? Wird man jetzt auch mit seinen Prognosen recht behalten?
    «Weshalb haben Sie nichts unternommen?»
    «Hab ich doch, und ich hab’s schwer gebüßt.»
    Interessant, daß Christa Wolf, Stephan Hermlin und Konsorten jetzt schweigen. Mir kommt all das, was ich seit 1945 runtergeschluckt habe, auf einmal hoch. Ich hör noch den Kommunisten Bruger 1945 zu mir sagen:«Freie Meinungsäußerung? Ja, aber nur im demokratischen Rahmen!»Das hat mir genügt, da wußte ich, was auf uns zukam. Ich war 16 Jahre alt.
    Lesung in Grevenbroich bei Düsseldorf!

Düsseldorf
Do 14. September 1989
    Bild: Heute in die Klinik/Wehners Arzt operiert Kohl/Spritze ins Rückenmark, dann kommt die Schlinge
    ND: Die DDR und die UdSSR sind zuverlässige Verbündete
     
    In Düsseldorf vor Berufsschülern, um 10 Uhr (Buchhandelsfachklasse). Stumpfe Sache. Ich las so humorig wie möglich, ohne Erfolg. Außerdem waren andere Autoren an meiner Seite, von denen etwas Feindseliges ausging. (Vielleicht auch nicht, aber mir war so als ob.)
    Danach in Erkelenz, um 19 Uhr: Nagelneue Bibliothek, so einen Luxus gab es früher nicht. Die Produktionen unserer zeitgenössischen Schriftsteller verglichen mit diesem Bücherpalast … Von mir gehe ein fremd anmutender, distanzierter Charme aus, schreibt Katrin Wasilewski in der«Westdeutschen Zeitung». Sehr interessant.

    Ein junger Mann:«Würden Sie das Buch bitte meinen Eltern widmen?»-«Ja gerne, wie heißen die denn?»-«Die sitzen da drüben!»
    Eine plattdeutsche Frau:«Ich bete auch immer für Sie.»
    Ein Herr:«Würden Sie meinen Namen reinschreiben?»(Burckhardt) -«Ja, wie schreibt man den?»-«Wie man spricht.»«Warum haben Sie gesessen?»- Immer wieder diese Frage.
    Ja, warum?
    Die sogenannten einfachen Menschen.
    Ein Stralsunder drückte mir die Flosse. Er sei aus Stralsund. Ich melkte den Applaus.
    Ich war deutlich«alter Mann», jedes Jahr driftet die Eisscholle weiter ab. Sie denken: Er sitzt im Garten, unter einem Sonnenschirm ganz in Weiß. Alte Schreibmaschine, dann kommt ein Manager, große Begrüßung, goldenes Kettchen, ein Ziegenbock stört, oder ein Pfau. Von fern kommt ein Pferd plus Reiterin, die Tochter? Die Frau? Die Gespielin?
    Es ist aus. Wann ist es passiert? Im Zug, die plötzliche Müdigkeit. Der Überdruß. Man ist schwerer geworden. Der Abstand zu groß.
    Geliehenes Leid.
    Geborgtes Leid.

Im Zug nach Bremen
Fr 15. September 1989
    Bild: Luftlöcher zugeklebt/LKW-Fahrer erstickte 79 Hundebabys
    ND: Michail Gorbatschow kommt zum 40. Jahrestag der DDR
     
    Eben im Speisewagen am Nebentisch ein schmatzender Südländer, hinter mir im Großraumwagen zwei überlaut sprechende Proleten (trotz Ohropax jedes Wort zu verstehen). Im Hotel (200 Mark die Nacht!) kein heißes Wasser (Rasieren), Fernseher nur halb in Ordnung und wird nicht repariert. Der Fahrer, der
mich gestern (netterweise) nach Erkelenz holen mußte, stank und fuhr auf der Autobahn 220 km/h. Zum Essen war es vorher zu früh, nachher zu spät. - Das gute Honorar muß erwähnt werden und die rührende Aufnahme durch das Publikum. Alle drei Säle waren ausverkauft. Diese

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