Alkor - Tagebuch 1989
über die«Trabis», deren Benzingemisch hier verboten ist wegen der Abgase. Sie kriegen eine Ausnahmegenehmigung«zur Vermeidung sozialer Härten».
9 -Uhr-Nachrichten. Honecker läge immer noch im Krankenhaus, er habe keinen Genesungswillen mehr. Erst jetzt habe er das ganze Ausmaß der Flüchtlingswelle erfahren. (Erst jetzt? Das begreife ich nicht.) Bis zum Morgen hätten schon 2000 Autos die Grenze passiert, es wär’ viel mehr, als erwartet. Manche führen gleich bis nach Bayern durch. Noch sei es in den Lagern ruhig. (Ich denke mir, daß die schlaueren Urlauber einfach in ihren Hotels geblieben sind und abgewartet haben: Und jetzt aber los!)
10-Uhr-Nachrichten. Es«rollt»die Ausreise-Welle. Mehr als 10 000 Menschen sind es. Mit der ersten Welle kamen 10 000 in 3000 Kraftfahrzeugen. V-zeigende Autofahrer. Der Berichterstatter hatte den Augenblick abgewartet, wo tatsächlich die Spitze der Kolonne in Sicht kam. Mich ergriff eine Art innerliches Jubeln. Die meisten hätten Verwandte und wollten gar nicht ins Lager. Man sieht das Kolossale, Unerhörte. Mit offenem Mund sitzt man da, hier strudelt die Weltgeschichte, der Kalk löst sich und schwemmt dahin. Die evangelische Kirche Ost ist«traurig»darüber, daß so viele Menschen das Land verlassen. Anstatt, daß sie denen«alles Gute»wünschen. Der katholische Bischof von Berlin hat gesagt: Der Herrgott will das nicht.
11 Uhr. Es sei der größte Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg, mehrere tausend PKW. Die Flüchtlingszüge stünden leer, die meisten Flüchtlinge quetschten sich lieber zu sechst in die Trabis, sie«bildeten kleine Gruppen». Die DDR spricht von organisiertem Menschenhandel. -«Endlich raus!»sagt einer.
Tolstois Erinnerungen. Die Beschreibung seines Hasses: wie er seinen Erzieher haßt. - Er selbst beschreibt sich als struppigen Jungen. Ich habe sofort alle Tolstoi-Bilder hervorgekramt, die Jugendbilder zeigen ihn weder struppig noch häßlich. Ganz im
Gegenteil. Wie alle Heiligen muß er für seine Familie unerträglich gewesen sein. Er war ein«Sitzriese», also klein von Wuchs. Eine Broschüre namens«Tintenfisch»von 1971. Wer so alles mitsegelte in der Auflösungs-, Revolutionseuphorie von 1968.
Ansonsten wieder menschenfreundliche Briefe geschrieben mit’ner ziemlichen Wut im Bauch.
Dorfroman: Die Hühner warten auf mich an der Alleetür. Auch die Katzen kommen angerannt, wenn ich die Vögel füttere. Der Hahn ist ein gewaltiger Brocken geworden. Wenn er auf den Platten geht, stampft das richtig. - Letzte schöne Sommertage. Ein Jammer. Gesundheitlich geht’s mir gut. Keinerlei Wehwehchen.
Nartum
Di 12. September 1989
Bild: Sie küssen die Freiheit
ND: Für eine starke DDR / Jeden Tag hohe Leistungen
Ich rasierte mich unter dem Tristan-Vorspiel. Dabei vermeide ich es, mir meine Augen anzusehen. Ich ertrage nicht, das Erschlaffte, Ermüdete. Zähne gehen noch.
Zu Mittag reife Zwetschgen. Ein lang entbehrter Genuß. In Läden nur unreifes Obst zu bekommen überall. Für heute nachmittag habe ich mich von Hildegard zum Tee einladen lassen. Schön; bei seiner Frau einen Besuch machen? Anklopfen?
«Teegebäck»im Jahre 1937. Wenn ich es jetzt vorgesetzt bekäme, möchte ich es vielleicht gar nicht. Aber der Aufschnitt von Max Müller!
Hans Jürgen Fröhlich («Tandelkeller»). - Er hat so etwas Kindliches, Naives. Vielleicht wirke ich auf die Menschen ähnlich? Intelligenzbolzen stufen das als negativ ein. Naiv zu sein ist in Deutschland gleich dumm.
Solschenizyn («August 14»). Gehört zur«Fügte-er-hinzu-Literatur». Er will 28 Bücher schreiben. Wie alt ist er jetzt? Offenbar kann er nicht rechnen.
Dorfroman: Die Maisfelder um unser Haus herum geben der Gegend etwas USA-haftes. Idaho-ho!
Im Zug nach Düsseldorf
Mi 13. September 1989
Bild: Honecker lebt, liest Bild und ärgert sich / Hurra, Berliner sind da! / Erste Ungarnflüchtlinge in Tegel gelandet
ND: Großer Einsatz aller Kollektive zur Erfüllung ihrer Wettbewerbsziele
Dramatische Wochen. Dieses Zusammenkrachen des Kommunismus mitzuerleben! Fast symbolisch zu nennen sind die Gesichter der greisen DDR-Funktionäre auf der Tribüne, wie gestern im TV.«Geronten»nannte sie der Sprecher. Man muß die brutalen Stasi-Leute gesehen haben, wie sie den eher schüchternen Demonstranten die Transparente wegrissen. Sprangen sie so an, katzenhaft. Spezielle Kleidung der Stasi-Leute, Turnschuhe, Windjacken. Das allgemeine Kommunismus-Desaster gesellt sich
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