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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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müssen. Also, damit hat sie leider das Kostbarste zerstört. - Das Kempowski-Archiv wird nicht erwähnt. Auch in der SZ ist keine Rede davon. Die«Welt»hingegen hat’s getan.
    Jeden Morgen, wenn ich die Gardine zur Seite schmeiße, sehe ich in Nachbars Garten die fett und fetter werdenden Schlachtenten auf dem Gras herumwackeln. Sie haben nie einen Teich gesehen.
    Hildegard:«Tränenmeere kann jeder ausschütten, wenn’s erst mal angezapft wird.»- Auch Hildegard:«Menschen, die anderen Schwierigkeiten machen, meiden Menschen, die Schwierigkeiten machen.»
    Ein Akustiker war da, der mir anhand eines Eimer Wassers und einfallender Tropfen klar machte, weshalb es in unserm Turm so hallt. Wir haben nun vor, rippenartige Bohlen einzuziehen, von unten nach oben, sechs Stück, vielleicht hilft das. Hierzu werden aber noch exakte Messungen nötig sein. Eigenartig ist es, daß der runde Raum, der Turm also, ähnlich wie das Oma-Zimmer, von den Seminar-Gästen nicht«angenommen»wird. Sie drängen
sich lieber in der Bibliothek auf dem grünen Sofa. Im Oma-Zimmer sitze man abseits vom Geschehen, sagte mir einer der Leute, da fühle man sich ausgeschlossen. Der Turm hingegen wirke irgendwie sakral. Ich habe es nun aufgegeben, die Leute dorthin zu drängen, zu schubsen. Man muß Räume anbieten. Wenn sie nicht angenommen werden, verstärken sie das Gefühl für Luxus.
    Hildegard erschreckte mich, weil sie abends plötzlich weg war. Alles Licht an, auch draußen. - Sie war um 22 Uhr Katzenfutter beim Nachbarn holen gegangen.
    Truman Capote habe Sekt aus einer Papiertüte getrunken.

Nartum
So 10. September 1989
    Welt am Sonntag: Vor CDU-Parteitag neuer Eklat zwischen Kohl und Geißler
    Sonntag: Zwiesprache. Walter Markov, dokumentiert von Thomas Grimm
     
    Wir frühstückten auf der Galerie: Ei, Apfelgelee und Honig. Auf der Allee wildes Hinüber und Herüber der Kaninchen. Wir beheimaten wohl 30 Stück. Jäger zeigen sich uninteressiert an diesem Wild. Buchfink Hugo kam und holte sich ein paar Krümel. Er scheint schon drei Jahre hier zu leben. Ich stelle mir vor, daß ich mal nach Lindau fahre und ihn dort auf der Kaffeeterrasse wiedertreffe.
    «Na, wie geht’s, Hugo?»
    «Ich heiße Eduard von Woltersen», sagt er dann.
    Gestern Steffi Graf gegen die Dings gewonnen, heute spielte Becker gegen Lendl (harter Brocken), weiß nicht, wie’s ausgegangen ist, es ist ja eigentlich egal, aber immer will ich wissen, ob Steffi nun hübsch ist oder nicht. Ihre Stimme ist jedenfalls hart am Wolfsrachen angesiedelt. Neulich hat sie in einem Interview wohl zehnmal hintereinander«unwahrscheinlich»gesagt. Wie
ungeschickt sie sich anzieht, bei Empfängen! Das tun Sportlerinnen ja überhaupt. Männer haben da weniger Probleme.
    Wenn ich von der Zeitschrift«Vogue»mal wieder aufgefordert werde, mit irgendwem ein Gespräch zu führen, dann werde ich Steffi Graf benennen. Aber dann streichen sie mir das natürlich,«das wollen alle.»-Außerdem: Worüber würde ich mit ihr sprechen?
    «Wie kommt es, Frau Graf, daß sie so viele Angaben ins Netz hauen?»- («Schreiben Sie alles mit der Hand?»)
    Im TV gab es ein Gedenkkonzert für Karajan - ohne Dirigent. Die nicken sich bei den Einsätzen so zu. Eigentlich nicht sehr geschickt: Daß es auch ohne ihn geht, sollten sie an einem solchen Tag nicht demonstrieren.
    Ich habe ihn mal erlebt, bei einer SPD-Veranstaltung in der Philharmonie in Berlin, irgendwelche Walzer-Scheiße, was anderes wollte er den Genossen wohl nicht zumuten. Da hat er sozusagen auch nicht dirigiert, hat nur ein bißchen gerudert. Hinterher kriegten wir kein Taxi, das weiß ich noch.
    Aber, ihr glücklichen Augen, was habt ihr alles zu sehen gekriegt! Ich sah Hitler, sprach Kohl und hörte Karajan. Das Luftschiff«Graf Zeppelin», im Jahre 1936, einen Zigeunertreck und im Tierpark eine«Völkerschau», direkt neben dem Zwinger mit den Bären.

Nartum
Mo 11. September 1989
    Bild: Ungarn: Alle Flüchtlinge raus/Honecker will sterben
    ND: 200 000 auf der Großkundgebung in Berlin für starken Sozialismus und sicheren Frieden
     
    Morgens fällt mein erster Blick auf die mecklenburgische Fahne vor unserem Haus, nachts höre ich sie schlackern. Unser Grundstück ist exterritorial. Eine schwarz-rot-goldene Fahne aufzuziehen, das könnte ich nicht riskieren, das würde man mir als nationalistisch
ankreiden. Oder es würden Menschen kommen und denken, hier ist die Post.
    Heute früh die ersten Kommentare: Sie kommen! - Diskussion

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