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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Schußverletzungen. Scharfe Munition an Betriebskampftruppen, Maschinengewehrnester auf Dächern (!). Die Leipziger, die an dem Abend auf die Straße gegangen sind, hätten genau gewußt, was ihnen da blühte, und sie seien trotzdem gegangen. Von den Prügelpolizisten ist noch kein einziger zur Verantwortung gezogen worden. Überhaupt: Enthüllungen fehlen. Nur, daß in Bitterfeld die Lebenserwartung der Menschen um acht Jahre (!) niedriger sei wegen der Pestilenzen, die die Industrie dort in die Luft schleudert. -«Ja», hat ein Funktionär gesagt,«die rauchen da unten mehr als anderswo. Deshalb sterben sie früher.»
    Ohne Wiedervereinigung schaffen die das in zehn Jahren nicht. Und da«Gorbi»gegen dieselbe ist, sehe ich schwarz. Er kann ja gar nicht dafür sein.
    Es wird dauernd gesagt: Wir dürften denen da drüben keine Ratschläge erteilen. Wieso eigentlich nicht? Man wird sich doch noch Gedanken machen dürfen? Ein guter Rat ist bekanntlich teuer. Gegen Mittag fuhr ein Auto vor mit einem Steinmetz aus Rostock und seiner Frau. Er hat von der Friedhofsverwaltung den Grabstein unserer Großeltern gekauft und gleich mitgebracht. Nun, das war eine Überraschung! Wir wuchteten ihn in den Garten. Wir werden ein gutes Plätzchen finden. 400 DM gab ich dafür. Sie erzählten, daß sie jetzt, als Rostocker, in Thüringen kein Benzin bekommen und in den Gaststätten nicht bedient werden, weil nirgends zu lesen steht, daß auch in Rostock demonstriert werde.«Und dabei demonstrieren wir jede Woche!»Zunehmend Besorgnis wegen der Entwicklung: Das kriegt niemand in den Griff.

Nartum
Di 21. November 1989
    Bild : Experten einig - Krenz hat noch 4 Wochen / Zwangsräumung / Mieter sprengt sich in die Luft
    ND: Für ein friedliches, geregeltes Miteinander von DDR und BRD
     
    T: Mit Prinz Charles und Lady Di in einer speziellen Schlemmer-Bar: Wir gehören dazu. Als sie weg sind, esse ich seinen übriggebliebenen Pudding auf.
    Ein junger Foto-Schüler aus Berlin war gestern da, sollte einen«Prominenten»fotografieren. Er stellte sich ziemlich linkisch an, hatte natürlich auch keine ordentliche Kamera. Nein, die Ereignisse in Berlin haben auf ihn keinen Eindruck gemacht, sagte er, und fotografieren hätte er sie auch nicht wollen. Das seien ja immer dieselben Bilder. Ich fragte ihn nach Impressionen, da sagte er:«Ich sah einen Mülleimer auf der Straße stehen, bis oben hin voll mit Bananenschalen.»Aber fotografieren hätte er das nicht wollen, nein. Dieser Mann wird kein Fotograf.
    Im«Spiegel»eine verdrehte Meldung über mich. Inhaltlich stimmt sie (Reise nach Holland betreffend). Was mich dabei stört, ist, daß ich die abgedruckte Bemerkung im privaten Kreise gemacht habe.
    Friederike erzählt, daß in der Berliner Uni ein Professor gefragt hat, nun sei er mal neugierig, ob z. B. der Kempowski wieder rüberreisen dürfe. Da habe sie ganz laut gesagt: Ja, da wär’ sie auch neugierig. Alle hätten sich nach ihr umgedreht. Gestern hat der Rostocker Steinmetz erzählt, daß er’ 52 verhaftet worden sei von der Stasi,«viel Prügel». Dann vier Jahre Waldheim, dort Krankenpfleger.
    Das schlechte Image Kohls: Der kann machen, was er will, der hat immer ein schlechtes Image. Es sind die Halunken, die verherrlicht werden.
    Gestern hatte ich eine seltsame Erfahrung. Ich sollte mich für den Fotografen an den Flügel setzen und spielte die F-Dur-Sonate,
wie immer mit geschlossenen Augen. Er bat mich, die Augen zu öffnen, und als ich dann auf die Tasten sah, verspielte ich mich sofort.
    In der FAZ ein Bericht über Wandlitz, Bonzograd, wo 24 führende SED-Leute ein Schlemmerleben führen. Die Läden boten Sonderimporte an. Damit ist es nun vorbei, es soll Museum werden (so wie die Marcos-Villa?). - Die Verkäuferin war irgendwie beleidigt. Sie hält, wie gutes Dienstpersonal, zur Herrschaft. Die Übersiedler werden in den Zeitungen kaum noch erwähnt. Seit Öffnung der Grenze sind es fast 40 000. Die wissen, was ihnen drüben blüht. Das sind die Realisten. - Ich würde nicht leben können in einem Land, in dem Modrow oder die Bohley das Sagen haben. Auch das kleinere Übel bleibt ein Übel. Übrigens haben hier Spekulanten sämtliche Ostmark aufgekauft, es ist keine mehr zu bekommen. Es gibt auch Ossis, die hier ihr Begrüßungsgeld in Ostmark umtauschen.
    Hildegard hat eine wahnsinnige Erkältung, und ich hätte sie auch, wenn ich nicht immun dagegen wäre. Ich kann mich nicht erinnern, jemals Husten oder Schnupfen gehabt

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