Alkor - Tagebuch 1989
daß die nicht mitklatschten und böse Gesichter machten. Die Bevölkerung lasse sie ruhig mitlaufen. Der Zug biegt dann in die Friedrich-Franz-Straße ein, an der Stasi vorüber, und löst sich vorm Steintor auf. Harry Tisch habe seinen 60. Geburtstag auf einem Luxusdampfer («Traumschiff») gefeiert, SED-Genossen (Funktionäre) hätten Häuser im Bayerischen Wald und führen regelmäßig nach Italien und Spanien auf Urlaub, heißt es. Konten in der Schweiz. Sie kämen sich wie Bettler vor, sagten die Rostocker Eheleute. Beim Empfang des Begrüßungsgeldes seien sie gefilmt worden. Nach Bremen waren sie gefahren, weil Bremen die Patenstadt Rostocks sei. Es sei doch verdammt weit. Am Sonnabend hätten sie es schon mal versucht, hätten aber aufgegeben, wegen des Riesen-Staus. Irgendwie hatten sie von der Patenstadt was besonderes erwartet. Von Bremen!
Die Frau malt und hatte unter dem Arm eine kümmerliche, offenbar selbstgemachte Mappe mit ganz hübschen Pastellbildern, die sie in Bremen verkaufen wollte. Er hat seinem Meister einen Brief geschrieben, daß er auf nächstes Jahr zwei Urlaubstage nehmen möchte. Und den Sohn haben sie in der Schule damit entschuldigt, daß sie«Heimatkunde»machen wollten. Die Lehrerin hat’s auch gestattet. Von Wiedervereinigung wollen sie nichts wissen.«Unsere arme kleine DDR.»Hier greift eben doch die jahrzehntelange Verteufelung des Westens. Das wird der Grund sein, denn die drüben könnten ja nur gewinnen, wogegen wir die Last tragen müßten. Hier ist die Stimmung, außer bei den Linken, sehr dafür.
Die Frau setzte sich vor den Kamin und stocherte in den Flammen, sie habe so was noch nie erlebt. Hildegard stellte den beiden Kindern meinen schönen alten Blechbahnhof von 1910 zum Spielen auf den Teppich. Sie hat keine Ahnung, wie wertvoll der
ist. Mit dem Jungen spielte ich zeitweilig«Geld aus der Tasche klauen», da war er ganz gelehrig. Er hatte sich in Bremen ein elektronisches Pingeldings gekauft, dauernd pingelte es«Jingle Bells». Zeitweilig war er ganz verschwunden, wir fanden ihn oben auf dem Boden wieder, wie er da herumstöberte. Dieser Junge wird seinen Weg machen.
Wie der Krenz jetzt auf einmal Reformen unter’s Volk schippt. Freie Wahlen natürlich, Gebrauchtautos aus dem Westen, Reisen sowieso, Zivildienst, ein Verfassungsgericht, Parteien (die Modrow schlau in einer Koalition zusammenfassen will). Und jetzt stehen schon wieder Tausende vorm Brandenburger Tor, verlangen, daß die Mauer dort abgerissen wird. Der Rostocker kann überhaupt nicht begreifen, daß sie um das Brandenburger Tor so ein Gewese machen.
Im BBC nennen sie die Trabis«funny little cars».
Der Kabarettist Hildebrandt hat es sich mit den Zonenbewohnern verdorben, weil er sie«die neuen Türken»genannt hat.
Nartum
Fr 17. November 1989
Bild: Selbstmord-Serie/SED-Chefs müssen Waffen abgeben/ Die halbe DDR kommt rüber
ND: Zustimmung für Vorschläge von Ministerpräsident Modrow
Man kann nicht sagen, daß sich die Lage normalisiert. Die SED gibt Leine, wie die Angler sagen. Die Funktionäre klagen sich selbst an, aber sie bleiben. Stasi-Wolf will Honecker und Mittag unter Anklage stellen, und die Dulder klatschen dazu Beifall.
Weiterhin glückliche Gesichter, nicht mehr so ganz fassungslos. Gestern abend hatte ich eine Lesung vor Rotariern und Lions, eine Riesen-Sache. Ich erfuhr drei Minuten vor Beginn, daß ich keine Lesung, sondern einen Vortrag halten sollte! Guter Rat war teuer. So ließ ich also die Bücher auf dem Platz liegen und
sprach über das Thema«Schriftsteller und Gesellschaft»: ein wunderbares Gefühl, mit Worten die Menschen mitzureißen, Trance. Angenehmer Beifall.
Nartum
Sa 18. November 1989
Bild: Was für ein Wochenende!/Trabbis Trabbis Trabbis/ 3 Millionen bei uns/«Größter Besucherstrom aller Zeiten»/ 1000 Kilometer Stau/Heute Ku’damm dicht/Schokolade statt Strafzettel/Seid nett zu ihnen
ND: Eine Regierung der Koalition, eines neu verstandenen kreativen Bündnisses / 12. Tagung der Volkskammer
Heute waren auf der großen Leipziger Marktversammlung Töne zu hören, die mir nicht gefallen haben: Sozialistische«Monopolkapitalisten»seien wir, wurde da gesagt. Bin ich ein Monopolkapitalist?
Gestern kam eine Gruppe von Schülern aus Bremen. Ich war lieb zu ihnen, und sie waren freundlich zu mir. Einer verfügte sich in die Bibliothek und zog Bücher heraus, das tat mir wohl, als würde ich massiert werden. - Was stand mir alles noch bevor, als
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