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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ich so alt war wie sie. Und die Nazi-Zeit hatte ich hinter mir. Aber darüber kann ich nicht sprechen. Ich kann mich nur auf Anekdotisches einlassen, wie ich in der Zelle Feuer machte zum Beispiel, bei so was hören sie zu. Oder Einzelhaft, das kapieren sie, daß das nicht schön ist. Übrigens bagatellisiere ich gern das Schlimme, ich«untertreibe». Meine Flucht aus Berlin nimmt sich wie ein Happening aus. Klar ist es, daß ich für Jugend meine Bücher nicht geschrieben habe. Erster und vielleicht einziger Nutznießer bin ich selbst.
    Ein Sommermädchen aus alten Zeiten schreibt:
    Meinen 18. Geburtstag habe ich groß gefeiert. Bei uns in der Umgebung ist es so Sitte, daß man rohe Eier auf den Kopf geworfen bekommt, als Zeichen für die nun erhaltene Volljährigkeit. Mein
Vater hat sich wahnsinnig darüber aufgeregt. Es ist wirklich nicht angenehm, ca. 20 Eier auf den Kopf zu bekommen, auch wenn das vielleicht gut für die Haare ist …

Nartum
So 19. November 1989
    Welt am Sonntag: 9 Millionen Besucher aus der DDR / Neues Forum fordert Krenz-Rücktritt
    Sonntag: Für ökologischen Umbau. Von Rolf Caspar
     
    Ich fürchte, es ist aus! Die Revolution mit den Kerzen und den originellen Plakaten, die Trabi-Exvasion mündet in der gleichen deutsch-ekstatischen Unvernunft. Sozialismus ist wieder angesagt. Ein Glied in der Kette, die sich um uns legt. Das Ende ist die totale Diffusion, und sie mündet im End-Elend.
    Biermann hat in der FAZ ein langes Gedicht abgelassen: daß er den Funktionären nicht die Fresse einschlagen will usw. Wir wissen noch, wie sie sich darüber aufregten, daß PGs als Mitläufer eingestuft wurden.
    Jetzt verbreiten sie übrigens das Märchen, daß in der Zone die Nazis radikaler bestraft worden seien als im Westen. Als ob es hier keinen Fragebogen gegeben hätte und keine Spruchkammerverfahren! Radikaler? Sie haben kleine HJ-Führer nach Neubrandenburg geschafft, ohne Gerichtsurteil. Das stimmt. Jahre haben die da gesessen, wenn sie nicht verhungerten. -«Ja, aber Globke …»- Als ob in der Volkskammer keine Parteigenossen gesessen hätten.
    Einen ehemaligen Parteigenossen zum Bundeskanzler zu machen, das allerdings war geschmacklos.
    Mitternacht. Die große Freude ist vorbei, das Deutsche setzt sich durch. Überall ist plötzlich wieder von Sozialismus die Rede. Trotz der Flüchtlinge, die ja gegangen sind, weil sie das System satt haben, und obwohl der Sozialismus auf der ganzen Welt bankrott gemacht hat.

    Ich melde mich hier jetzt wieder ab.
    Ein paar hübsche Bilder, die Mauer wird überall mit Hammer und Meißel durchlöchert. Kinder, alte Männer, Frauen, Russen sogar. Ein humorloser West-Polizist kommt geritten und verbietet es. Will den Leuten die Meißel abnehmen. Ein Galerist aus New York hat sich ein Stück herausoperieren lassen.«Für ein paar Blaue!»Am Brandenburger Tor wird die Mauer aus symbolischen Gründen nicht abgerissen. Es sollen«scharfe Zollbestimmungen»eingeführt werden, damit die DDR nicht ausblutet. Um die Währungsreform kommen sie nicht herum.
    Es gibt Polen, die kaufen drüben irgendwas, bringen es nach Westdeutschland, verschleudern es hier billig für ein paar W-Mark und fahren wieder rüber und kaufen wieder usw.
    Die DDR hat Auffanglager für rückkehrwillige Flüchtlinge eingerichtet, und zwar für 2000 Personen. Baracken mit sauber bezogenen Luftschutzbetten. Im Film wird’s gezeigt, Feldbetten mit gefalteten Decken drauf. Eine Kantine, in der Eintopf hergestellt werden kann. Nun haben sie die Lager wieder aufgelöst, weil nur sieben Personen kamen.
    Ein Herr aus Amsterdam wegen des Eklats im Goethe-Institut. Es kämen zu Vorträgen immer Menschen, die etwas gegen die Person des Vortragenden haben oder gegen das Thema - oder Leute, die sich ärgern wollen oder sich selbst am Mikro hören wollen.
    Einige seien nur gekommen, weil ein deutscher Autor angekündigt worden sei, der gegen die Russen spioniert habe und noch immer Antikommunist und Russenfeind sei. Die Russen seien doch ihre Bundesgenossen (gewesen). Er tröstete mich:«Ein früherer Schüler von mir sagte, er habe ein stellvertretendes Schamgefühl gehabt wegen seiner dummen Landsleute. Aber für Landsleute wollen wir uns nicht mehr schämen, nicht wahr? Da tragen wir keine Verantwortung, schließlich wählen wir nicht unsere eigene Wiege. Sie doch auch nicht?»
    Sehr nobel.

Nartum
Mo 20. November 1989
    Bild: 3 Millionen kamen rüber/Danke, ihr wart wunderbar!
    ND: Koalitionsregierung Modrow

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