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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Zeitschriften: 70 Mark. Ich hatte meinen Fotoapparat mitgenommen, aber ich kam nicht zu Schuß. Eine skurrile Händlerin wurde leider von einem Passanten vor mir gewarnt, als ich den Apparat zückte. Die goldenen Zeiten des Sperrmülls, wir haben an ihnen leider nicht teilgenommen. Auf dem Lande wird nichts weggeworfen.

Nartum
Mo 27. November 1989
    Bild: Zwangsumtausch weg!/Wir können ohne Visum rüber
    ND: Von dieser Stadt gingen Signale zur Erneuerung des Sozialismus aus/Egon Krenz im Gespräch mit Leipzigern auf der Straße, im Warenhaus etc.
     
    Heute vor ich weiß nicht wieviel Jahren versuchte ich dem Verhängnis zu entrinnen, 1947. Als ich damals ging, hatte ich einen sogenannten«Kehrdichannichts», der sich bitter rächen sollte.«Es sollte nicht zu unsrem Segen werden», wie Mutter sagte. Oder doch?
    Inzwischen ist auch die ČSSR«am Kippen». Den alten Dubček zu sehen, war schon ergreifend. Die vielen Fahnen, das Schlüsselklirren. Bei uns spitzt sich das«Wiedervereinigungs-Gerede»(Vogel) zu, es wird uns auf Jahre nicht mehr verlassen. Auch von drüben«schallt’s». Wer was auf sich hält, ist gegen sie.
    Ich aß im«Ali Baba»eine Suppe mit Käseeinlage, die sehr lange Fäden zog.

Nartum
Di 28. November 1989
    Bild: Die schönste Botschaft zum Advent/Jetzt reißen sie die Grenze ein/Die ersten 11 Kilometer Stacheldraht weg
    ND: Für neues Verhältnis von Regierung und FDGB
     
    Lesung in Merzig. Habe meine Fahrkarten zu Hause liegenlassen! Und kaum Bargeld in der Tasche. Das sind diese Reisebegleiterscheinungen, die man eben absolut satt hat. Ist mir noch nie passiert! - Eben höre ich, daß ich auch mit Euroscheck im Zug bezahlen kann. Aber die Unruhe bleibt. Es war alles so gut organisiert. - Ich aß zwei Spiegeleier mit Bratkartoffeln im Speisewagen, trank dazu ein Pils.
    12 Uhr. - Nun habe ich mich beruhigt. Es gelang mir noch, in
Bremen eine«Supersparfahrkarte»zu ergattern. In Köln steige ich für zwei Stunden aus. Es ist alles so praktisch, entkrampft. Ich denke bei jeder Annehmlichkeit, die ich genieße, an die Mecklenburger und Sachsen, die das alles nicht haben. Allmählich ebbt der Jubel ab, es bleibt das große Erstaunen. Und nach und nach kommt all das Schäbige heraus, was sie drüben als Errungenschaften priesen und hier im Westen bewunderten!
    Es fiel mir auf, daß in der Hochschule keine DKP-Plakate mehr hängen. Das Geld fließt wohl nicht mehr.
    Ein besonders widerliches Kapitel geht auch hier zu Ende. - Nun werden die Menschen zehn Jahre zu tun haben, alles wieder aufzuräumen. Wie die Goeller sich darüber amüsierte, daß die Ossis nach Südfrüchten anstehen, und daß ihr niemand den Mund verbot. Alle haben genickt. (Schily mit seiner Banane).
    Davor haben die Europäer Angst, zu Recht, das Irrationale, das die Deutschen an sich haben, ist eine besonders unangenehme Erscheinung. - Nein, mich haben die 68er-Vorkommnisse nicht erhoben, und das, was dann kam, hat mich nicht überzeugt. Der Schaden, der von den Stürmern und Drängern angerichtet wurde, beläuft sich auf viele Milliarden Mark.
    Wir erinnern uns in dieser Stunde an all die kleinen und großen Gemeinheiten der Kommunisten: Als sie 1946 von den Unternehmern Steuern nachträglich verlangten, obwohl die Bankkonten eingefroren waren. An die grauenhafte Bodenreform, die systematische Vernichtung der kleinen Existenzen.«Wahlkampf»1946 - lassen wir das. Der Aufstand in Bautzen, im März 1950, und: sechs Jahre lang Salzmohrrüben und Sauerkraut. - Und dann hier ein X für das U. 40 Jahre lang - es ist zu lang, man hat keine Lust und Kraft, all die Steine aufzusammeln. Und schmeißen will man sie schon gar nicht.
    Henrichs in der ZEIT amüsiert sich darüber, daß die Leute am 9. November geweint haben. Und die«Tagesschauen»und«Heutes»haben uns verschwiegen, daß schon seit einer Woche auch drüben die Wiedervereinigung gefordert wird. Er amüsiert sich über den«glasigen Blick»der Zonis in den Westkaufhäusern. Und Frau Sichtermann liefert einen Schmierartikel ab, daß man
sich die Augen reibt, und das in der ZEIT: Sie wundert sich, daß einer sagt, die Leute in der Zone seien 40 Jahre länger der Unfreiheit ausgesetzt gewesen als wir. Daraus konstruiert sie, es würde SED und Nazi-Herrschaft gleichgesetzt. Es war schon ganz richtig, daß ich die ZEIT abbestellt habe. Hab’ mir viel Ärger erspart.
    Dagegen Bienek, und das muß hier zitiert werden:
    Es gibt keinen Sozialismus, auch keinen mit dem menschlichen

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