Alkor - Tagebuch 1989
mit großer Mehrheit gewählt /Egon Krenz im Fernsehen der DDR: Grenzöffnung ist keine Wiedervereinigung
TV: Rostock, sehr schlecht gemachter Film. Anstatt Bevölkerung zu Wort kommen zu lassen, wurden SED-Leute interviewt (Radio Bremen!). Eindrucksvoll war die Marienkirche, innen, bei völliger Dunkelheit, nur Schemen, die Orgel, Tausende. Man ließ sie ein unverständliches englisches Lied singen («We shall overcome»), wozu sie leicht schunkelten. Keiner kannte den Text. - Ansonsten lautet die neue gesamtdeutsche Nationalhymne:«So ein Tag, so wunderschön wie heute!»- das wurde allerdings nicht in der Marienkirche gesungen, das gröhlten die Besoffenen draußen mit erhobenen Flaschen. Renate erzählte, die hätten so viel getrunken, daß sie einfach umfielen. Sie sagte auch, daß die meisten Ossis jetzt nicht mehr über den Ku’damm liefen, sondern nach Kreuzberg führen. Es sei in der Stadt keinesfalls leerer geworden, die Leute seien eben woanders. Kreuzberg grenze an die Mauer, das werde später bestimmt Zentrum.
In einem Lokal habe sie mit ihrer Freundin zwei Amerikaner kennengelernt, die hätten wohl gedacht, bei dieser allgemeinen Verbrüderung könnten sie sich zwei Mädchen aufreißen, hätten dann noch telefoniert. Sie lachte, als ich sagte, ich hätte gedacht: Meine Kinder, in Berlin, die kriegen das bestimmt nicht mit, die sitzen bestimmt vorm Fernseher und sehen einen Western.
Die Leute sind absolut fassungslos. Sie schieben sich durch die Kaufhäuser und denken, sie träumen. Die Reporter, die früher gegen Konsumrausch gewettert haben und gegen die Überflußgesellschaft, hören die Beschreibungen der Träumenden gern. Ansonsten sind die Reporter von einer abgefeimten Blödheit:
R:«Sie sind heute morgen ganz früh losgefahren?»
Ossi:«Ja, wir sind heute früh gleich um fünf …»
R:«Und Sie freuen sich, daß Sie nach 28 Jahren zum ersten Mal
wieder in die geteilte Stadt gehen können, in die Sie bestimmt schon früher mal …»
Ossi:«Ja, wir haben uns sehr gefreut …»
R.:«Und heute abend fahren Sie wieder zurück?»
Ossi:«Ja, heute abend fahren wir wieder zurück!»
So in diesem Stil. Sogar Lea Rosh, in Mauerbesichtigungs-Spezialkleidung mit hochgedonnertem Haar, lief in Mauernähe mit Mikrophon herum, sie will sagen können, sie sei dabei gewesen. Interessant, wie sie nur die Antworten bekam, die sie auch hören wollte. Wir sind lahme Blödmänner gegen die, den neuen Kurs hat sie schon anvisiert: daß das kapitalistische System natürlich für die da drüben nicht taugt, daß selbstverständlich die Einheit nicht gewünscht wird, daß es unerhört ist, wie die DDR nun ausgeplündert wird usw. Das Neue, wie es gewünscht wird, nahm auch bei den Grünen in ihrem Parteigequassel Gestalt an, aber irgendwie sind sie frustriert, daß das Neue da drüben doch nicht so kommt, wie sie meinen. Daß immer noch jeden Tag 3 000 flüchten, wollen sie nicht wahrhaben.
Ganz andere Töne ließ Reich-Ranicki vernehmen bei einem Neuner-Stammtisch mit Ulla Hahn und dem - wie heißt er noch - Entführte-Kinder-Vater, Kronzucker. Der nannte allerhand Autoren mit Namen, u. a. Christa Wolf (die erst einen Tag nach dem
9. November ihr Parteibuch abgegeben hat), Stephan Hermlin mit seinen Stalin-Oden (Hermlin am 9. 11.:« Eine Stalin-Ode? Nein, ich habe drei geschrieben!»). Ranicki wurde von der Runde niedergeschrieen, das gehöre sich nicht, ein Scherbengericht, das sei nicht unsere Sache …«Von Kant ganz zu schweigen», wurde auch gesagt. - Marlies Menge in der ZEIT bewundert Ossis, die sich extra DDR-Fähnchen gekauft haben und zu der Massenkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus mit Hammer und Zirkel gegangen sind und Kohl ausgepfiffen haben. - Warum haben sie’s eigentlich getan? Und waren das wirklich Leute aus dem Osten?
Käthe Kollwitz: Tagebücher (innere Emigration!) und Goldstücker, bei dem mich das lange Mitmachen stört. Hinterher ist der Jammer groß. Mehr oder minder.
Uns wird im TV Entscheidendes nicht gezeigt. So die gefilmten Selbstbezichtigungen der Politgreise Hager, Sindermann, Mielke. Daß die auf keinen Fall bestraft werden dürften, wird gesagt, das seien schließlich auch Sozialisten gewesen.
Nach und nach, ziemlich nach und nach, kommt heraus, wie die Ereignisse in Leipzig«auf des Messers Schneide gestanden»haben. In einem Wald hätten die Panzer schon die Motoren warmlaufen lassen, Krankenschwestern hätten Schnellkurse absolviert über das Verbinden von
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