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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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KP-Chef heißt), wir sind noch da! Eher geflüstert. Keine Erbitterung, nur: Jetzt ist es soweit.
    Inzwischen bin ich wieder auf Reisen. An einem Kraftwerk vorüber. - Eine Frau putzt die Fenster und winkt dem Zug zu. - Das machten Kinder früher. Von all den vielen Eindrücken ist das Gehirn so erschöpft, daß es mir fortwährend die unsinnigsten Merkwörter zuraunt: Gleis 4, Gleis 4, Gleis 4, Gleis 4 … Oder 10 Uhr 35, 10 Uhr 35, Gleis 4, 10 Uhr 35, Gleis 4 … Als ich in Bern war: Berner Oberland, Berner Oberland … ununterbrochen.
    Nicht abgeerntete Apfelbäume.
    Die Katzen sind nun doch zutraulicher geworden. Von mir lassen sie sich noch nicht anfassen, aber von Hildegard. Der Munterhund hat sich an sie gewöhnt, merkwürdigerweise. Er pinkelt nur überall hin, letzte, verzweifelte Versuche, das Revier zu behaupten.
    Ein Herr zeigte mir seine Hände: Die seien seit seiner Kindheit nicht mehr gewachsen.
    Im dritten Programm das«Musikalische Opfer». Den Schluß haben sie einfach weggedreht, weil die Sendezeit vorüber war. Neulich, im Mozart-Film, sangen sie englisch.

Nartum
Fr 24. November 1989
    Bild: Kreml-Flieger Rust stach Mädchen nieder
    ND: Ministerrat beschloß Maßnahme gegen Schieber und Spekulanten
     
    Die Linken beginnen sich zu sammeln. Am schlimmsten ist das AL-Volk. Aber man muß auch sehen - nein, es ist zu widerlich. Die schönen Tage von Sowieso sind absolut zu Ende, was jetzt abrollt, das ist ein teures Trauerspiel. Nein, ich werde mich an
der Diskussion nicht beteiligen. Bei uns in Deutschland gilt: 1 + 1 = 3, da ist nichts zu machen.
    Dubček war zu sehen, auf dem Wenzelsplatz, er wischte sich die Augen. 67 Jahre alt ist er, da kann er noch einmal von vorn anfangen. Einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz propagierte er damals. - Die italienischen Kommunisten geben Hammer und Sichel auf und streichen das«K»in ihren Partei-Initialen. So was nennt man Kosmetik, denn die Schuld, die sie auf sich geladen haben durch Diffamierungen, Lügereien und Morde, können sie damit nicht streichen, das besorgt dann der liebe dämliche Westen.
    Eine Frau erzählte, sie habe als junges Mädchen 1935 eine Dichterlesung in Lippoldsberg erlebt. Das sei wunderbar gewesen, unter freiem Himmel, mehrere Dichter. - So werden die jetzt jungen Mädchen in 50 Jahren vielleicht auch sprechen, von unseren Zusammenkünften.
    Im TV Aufnahmen des 91jährigen Rudolf Heß. Der gehörte damals zu den wenigen akzeptableren Figuren. Aber auch verrückt, irgendwie. Ekstatisch versponnen. Wir hatten ihn als Lineol-Figur und wußten nie, was wir mit ihm anfangen sollten. Faber du Faur bezeichnet ihn als unheimlich. - Die in allen Punkten, auf allen Gebieten, über Jahrzehnte hinweg beibehaltene Sturheit der Sowjets. Die mit Hitler-Gruß ins Olympia-Stadion einmarschierenden Franzosen. - Er brachte zu einem Essen bei Hitler sein eigenes Körnerfutter mit, ein Adjutant trug es ihm hinterher. Das hat Hitler sich verbeten.
    Die Handwerker ließen meine Kugelbahn klingeln. Sie hatten ihr Vergnügen daran. Man kann es auch besser machen. Mit so was imponiert man den Leuten mehr als mit gesammelten Werken.
    Allerhand Biographien gelesen. Eine gute ist dabei, eine sogenannte Fremdarbeiterin aus Polen. Leider wohl zu kurz. Und nicht grauenhaft genug für unsere Zwecke.

Nartum
Sa 25. November 1989
    Bild : Wie irre ist Rust?
    ND: DDR und Österreich erweitern ihre Zusammenarbeit in der Wirtschaft
     
    Aus Hamburg kam eine Sendung Fotoalben, für die ich 280 Mark bezahlte (viel Reise, 30er Jahre). Wir haben hier nun etwas über 200 Fotoalben: Auch das sind Biographien. Unser Archiv wäre unvollständig ohne sie. Aber wie sollen wir sie«erschließen»? Was kann ich daraus dem«Echolot»zufügen? Fotos werden ab 1943 selten.

Nartum
So 26. November 1989
    Welt am Sonntag: Volk erzwingt weitere Rücktritte/Größte Demonstration in der Geschichte der ČSSR: 500 000 auf den Straßen der Hauptstadt Prag
    Sonntag: Der Dresdener Weg. Wie wird man Reformpolitiker? Gespräch mit OB Wolfgang Berghofer
     
    T: Ich gehe eine schmale Landzunge entlang, an die das Wasser spült; nun muß ich ein Stück waten, aber es ist doch tiefer, als ich erwartet hatte. Den Berg dort werde ich nicht erreichen können. Also kehre ich lieber um. - Bin ganz erleichtert, daß ich mich zur Umkehr entschlossen habe.
     
    Flohmarkt in Bremen. Ich kaufte Ansichtspostkarten von Rostock und Hitler-Briefmarken für das«Echolot»: 45 Mark, alte Briefe: 60 Mark und

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