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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Antlitz. Denn der Sozialismus ist eine blutige, mörderische Fratze. Er stellt das Wohl der Partei, die Planwirtschaft, die Macht der Herrschenden, eine noch so diffuse Ideologie über das Wohl des Menschen. Der Sozialismus - das sind 30 Millionen Tote … Jede Woche finden die Mitarbeiter von«Memorial»… bei Minsk neue Massengräber. Der Sozialismus hat in Ungarn, in Polen, in der Tschechoslowakei, in den baltischen Ländern, ja auch in der DDR Unterdrückung gebracht, Opfer an Menschen, an Ideen, an gutem Willen … Es gibt keinen neuen Sozialismus. Der endet wieder so.
    Und der Kubaner Guillermo Cabrera Infante sagt:
    Es ist der Sozialismus, der den Sozialismus besiegt hat. Im Fernsehen konnte man sehen, daß die sozialistische Supermacht, die Fernlenkwaffen besitzt und Mondraketen und Satelliten zur Erkundung des Weltraums und Atom-Unterseeboote und Panzer, welche General Guderians Stolz gewesen wären, keinen einzigen Bulldozer hatte, um die Trümmer wegzuräumen und das Leben der Menschen zu retten, die bei einem Erdbeben verschüttet worden waren! … Der Preis des Sozialismus ist Sklaverei, Grausamkeit und Tod - alles im Namen des Menschen. Man sollte nicht vergessen, daß auch Hitlers Nazi-Partei sich sozialistisch nannte.
    Raddatz stellt die Frage nach den kleinen Schuldigen, den Wächtern, Spitzeln, Folterern. Sie werden (wieder) ungeschoren davonkommen. Es ist sehr ulkig, daß man jetzt die Flüchtlinge madig zu machen versucht, dabei waren sie es doch, die, mit den Füßen abstimmend, die ganze Entwicklung auslösten.
    Es ist immer wieder zum Wundern: Leute, die in der ersten Klasse ungeniert die«Bild»-Zeitung lesen.

    Der von Raddatz befragte Semprun bezeichnet die Teilung Deutschlands theoretisch und historisch als einen Skandal. - Was er sonst sagt, läßt einem die Haare zu Berge stehen. Da ist einer Kommunist geblieben, obwohl er alles wußte.
    Ich habe meine Neugier befriedigen können.
    Der PEN hat von Gorbatschow verlangt, sie sollen Bienek und mich rehabilitieren. Das kann man doch gar nicht, ich habe ja«wirklich was gemacht», Gott sei Dank.

Trier, Altstadthotel
Mi 29. November 1989
    Bild: Wiedervereinigung / Der Anfang ist gemacht
    ND: Noch haben wir die Chance einer sozialistischen Alternative zur BRD
     
    Äußerst angenehme Verhältnisse, großes Zimmer, Frühstücksraum ohne Musik, riesiges Buffet. Schreiben wir mal auf, was es hier alles gibt. Also, Kaffee, Kakao und Tee, wobei der Tee zubereitet wird nach Wunsch der Gäste. Ich: Earl Grey und Darjeeling gemischt. Plus Kandis. Weitere Getränke: Orangensaft, rot und gelb, Milch, Grapefruitsaft. - Brötchen, Rosinenbrot, Croissants, drei Brotsorten (etwas zu dick geschnitten), Knäkkebrot, Zwieback, Eier natürlich, Margarine, Butter, Joghurt in drei Sorten, fünf Sorten Marmelade, vier Honigsorten. Apfelkraut, Sirup, Birnenmuß im Näpfchen. Dazu fünf Marmeladen offen, Quark, Nutella. - Vier Sorten Müsli, Nüsse, Rosinen, Schokolade, Backobst. Obstsalat, vier Sorten Käse, Tomaten, Salzgurken, sieben verschiedene Pasteten, zwei Sorten Wurst im Darm, fünf Sorten Käse offen, Schinken, drei Sorten Wurst in Scheiben. Sekt nach Wunsch. Und eine große Obstschale. Drückende Einladung von Norbert Blüm.
    Auch heute wieder in der FAZ, daß sich unter den Demonstrierenden in Leipzig das Verlangen nach Einheit der Deutschen durchsetzt. Die neuen Politiker da drüben stemmen sich mit
einem Aufruf dagegen, den natürlich auch Christa Wolf unterzeichnet hat.
     
    Trier, Diözesan-Museum. Etwas verworren und z. T. schlecht beschriftet, man läuft um die Exponate herum und sucht vergeblich eine Tafel. So z. B. die große Granitsäule. Aber eindrucksvoll, in Glasvorbauten, und draußen blauer Himmel.
    13 Uhr. Die Stadt wirkt auf mich brutal-anekelnd. In der Einfahrt eines früher mal herrschaftlichen Palais ein Zigarettenautomat: Volkshochschule. - Kaufhausarchitektur von extremer Scheußlichkeit. - Die Ausgrabungsstätte auf dem Viehmarkt liegt brach da: Mit dem Blick in die Geschichte ist nichts anzufangen. - An jeder Ecke DDR-Übersiedler, verschüchtert - naiv. Traurig. - Ich kaufte ein Achtel Jagdwurst mit Knoblauch, ein Schälchen Kartoffelsalat und ein Stück Brot und sitze nun im Hotel und«klage über verlorene Schöne».
    Woran erkennt man Ossis? Diese Frage habe ich mir heute in Trier gestellt. Am sächsischen Dialekt, sonst nicht. Manchmal tapern Westdeutsche mit staunendem Ostbesuch durch die Straße. - Auch unter der

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